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Studia austriaca - Università degli Studi di Milano

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Marlene Streeruwitz: Eine Poetik des Suchens 233<br />

In ihrer existentiellen Umwelt versuchen alle, Helene einzuschüchtern:<br />

vor allem der Ehemann, der sie verlassen hat und sich um <strong>di</strong>e Kleinen<br />

nicht sorgt, aber bereit ist, <strong>di</strong>e Frau zu bedrohen. Das männliche Wort und<br />

<strong>di</strong>e männliche Perspektive scheinen so überwältigend, dass sie etwa 300 Seiten<br />

lang nicht den Mut findet, ihn zu verklagen und endlich zu seiner Verantwortung<br />

für <strong>di</strong>e Kinder zu zwingen:<br />

»Sie mußte Gregor verklagen. Auf Unterhalt klagen. Aber Gregor<br />

hatte ihr gedroht. Er würde sie fertigmachen, unternähme sie etwas<br />

derartiges. Die Kinder würde sie nicht behalten, hatte er gedroht.« 94<br />

Die Stimme Gregors erweist sich als männlich, indem sie mächtig (<strong>di</strong>e<br />

Sätze schüchtern <strong>di</strong>e Frau ein, hemmen Helene, machen sie handlungsunfähig),<br />

aggressiv, brutal (durch <strong>di</strong>e bewusste Wahl von Lexemen und Verben,<br />

hier durch den starken, brutalen Ausdruck „fertigmachen“) wirken.<br />

Vielleicht ist <strong>di</strong>e stilistische Entscheidung für <strong>di</strong>e Erzählung in der dritten<br />

Person und besonders <strong>di</strong>e Wiedergabe der Diskurse in der in<strong>di</strong>rekten Rede<br />

oder eher in der freien erlebten Rede ein Kunstmittel, das als „Filter“ gegen<br />

<strong>di</strong>e Brutalität und <strong>di</strong>e Unbarmherzigkeit <strong>di</strong>eser Situation und <strong>di</strong>eser Figur<br />

gelten soll.<br />

4.3.1. Exkurs – Eine ethisch-stilistische Bemerkung zur Heteroglossie sowie<br />

zum Skaz<br />

Gerade von <strong>di</strong>eser Textpassage aus habe ich über <strong>di</strong>e Kunst der Autorin<br />

reflektiert, <strong>di</strong>e Vielfältigkeit, <strong>di</strong>e oft brutale, aber immer Aufmerksamkeit<br />

beanspruchende Mehrstimmigkeit der Welt in der Schrift zu reproduzieren.<br />

In den Romanen Marlene Streeruwitz’ erscheinen <strong>di</strong>e Personen<br />

besonders auffällig wegen ihrer Leben<strong>di</strong>gkeit und wegen der Prozessualität<br />

der Existenzformen: ich möchte mich hier auf den Begriff der Vielstimmigkeit,<br />

der Redevielfalt beziehen, auf <strong>di</strong>e so genannte Heteroglossie, 95<br />

das als dynamisches Kommunikations- und sinnkonstituierendes Modell,<br />

als „master trop“ des russischen Wissenschaftlers Michail Bachtin bezeichnet<br />

worden ist. Die sprachlichen Zeichen, Wörter, Äußerungen und<br />

Texte sind nicht synchron zu beschreiben, sondern bilden zeitlich und<br />

kontextuell unterschiedliche Bedeutungen:<br />

94 Marlene Streeruwitz, Verführungen., S. 103.<br />

95 Vgl. den Artikel über „Heteroglossie“ im Band Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie<br />

(1998), S. 211-212.

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