Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
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94 Das Leben in den Worten ~ <strong>di</strong>e Worte im Leben<br />
Arbeit, seine Vorsicht, seine Pläne von vorgestern. Wenn er mich ansieht,<br />
kommt sein Blick tief aus seiner Geschichte, schwer von Ungesagtem.«<br />
(Die Kr., S. 58)<br />
Das Schreiben wirkt – autobiographisch wie fiktional – als Reaktion auf<br />
„<strong>di</strong>e Schwerkraft der Verhältnisse“, als wichtigem, ja unentbehrliche Ressource<br />
zur Bewältigung der Umstände – <strong>di</strong>e man/frau nicht verändern<br />
kann –, zur Akzeptierung des Realitätsprinzips.<br />
In ihrem Essay Alle Krankheit verwandelte Liebe? Über Tuberkulose und Literatur<br />
erklärt <strong>di</strong>e Autorin, wie Die Kränkung mit einer üblicherweise von<br />
Ärzten nachgelieferten Darstellung verglichen werden könnte, <strong>di</strong>e anhand<br />
der Symptome, Röntgenbefunde und Laborwerte entsteht.<br />
Andererseits gilt das Schreiben als Erinnerungsweg, als Lösung, um <strong>di</strong>e<br />
Erinnerungen für sich selbst und für <strong>di</strong>e anderen zu erklären: »Die Gebärden<br />
des Erinnerns. Das Vergnügen am Ordnen der eigenen Biographie.<br />
Man rächt sich an den Ereignissen, indem man sie interpretiert.« 78<br />
»Keats schrieb an seine Verlobte, noch nicht aus Rom, noch nicht so<br />
auf den Tod krank, aber krank, er schrieb: Lieber unvorsichtig und<br />
beweglich sein als vorsichtig und unbeweglich.« (Die Kr., S. 44)<br />
An <strong>di</strong>eser Stelle, in Bezug auf <strong>di</strong>eses Zitat, das <strong>di</strong>e Autorin sehr mag,<br />
will ich auf das im Vorwort schon vorgeschlagene Modell des Weiblichen<br />
zurückgreifen, das Charakteristika wie Verausgabung, Innovation, Bewegung,<br />
Leben<strong>di</strong>gkeit aufweist, und das nicht nur für Frauen gilt, sondern eher für<br />
alle Menschen, <strong>di</strong>e sich nach <strong>di</strong>esem Konzept des Werdens orientieren<br />
und dem Sein das Prozessuale vorziehen.<br />
Lieber unvorsichtig und beweglich sein als vorsichtig und unbeweglich:<br />
das kann zur Lebens- und Kunstmaxime erhöht werden, wenn der<br />
Mensch Mut fasst und sich nicht scheut, Wandertage ins Ungewisse zu wagen.<br />
Hier ist noch einmal <strong>di</strong>e Position der Französin Hélène Cixous zu erwähnen,<br />
<strong>di</strong>e eine Ethik des Schreibens entwickelt hat, das auf der weiblichen<br />
Ökonomie der Gabe basiert, und den Anderen weder aneignen noch verdrängen<br />
will. 79<br />
In <strong>di</strong>eser Hinsicht soll der Grundgedanke <strong>di</strong>eser Erzählung Evelyn<br />
Schlags interpretiert werden. Die imaginäre Kathleen fordert <strong>di</strong>e Ich-Er-<br />
78 Evelyn Schlag, Alle Krankheit verwandelte Liebe? Über Tuberkulose und Literatur. In:<br />
Keiner fragt mich je, wozu ich <strong>di</strong>ese Krankheit denn brauche (1993), S. 163.<br />
79 Vgl. <strong>di</strong>e Anmerkung 30 im Vorwort <strong>di</strong>eser Arbeit.