Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
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Marlene Streeruwitz: Eine Poetik des Suchens 217<br />
neue Hut hinter dem Sarg. Von sich selbst spürte Lisa nichts.« (L. L.,<br />
1. Folge, S. 33)<br />
Sollte Lisa deswegen auch als Hysterikerin bezeichnet werden? Atemnot,<br />
Essstörungen, Schlaflosigkeit, Unruhe, Weinkrämpfe, Unsicherheit,<br />
sogar eine Hautkrankheit, ein Ausschlag auf dem Rumpf, verweisen als<br />
psychosomatische Störungen auf ihre innere Fragilität und auf ein tiefes,<br />
im Innersten verwurzeltes Leid:<br />
»Lisa hatte am ganzen Leib schrun<strong>di</strong>ge Stellen. Manche bräunlich<br />
entzündet. Manche trocken schuppig.« (L. L., 1. Folge, S. 53)<br />
Der übliche Weg, der darin besteht, über Leiden zurückzukehren zum Körperempfinden,<br />
60 erlaubt aber keinen Ausweg aus <strong>di</strong>esem Teufelskreis: <strong>di</strong>e Befreiung<br />
vom Leid ist nicht möglich, solange <strong>di</strong>e Aufmerksamkeit des Subjekts<br />
auf <strong>di</strong>e eigenen Krankheitssymptome beschränkt bleibt und <strong>di</strong>ese<br />
nicht als sekundäre Ausdrucksform des Kindheitstraumas begriffen werden:<br />
»Dieses wird eher noch verfestigt. Denn auf jede Bedrohung oder<br />
Verletzung wird der Körper mit den Krankheitssymptomen reagieren.«<br />
61<br />
Was <strong>di</strong>ese Erkenntnis betrifft, betont aber Rosemarie Lederer, dass<br />
Krankheit oft <strong>di</strong>e einzige Möglichkeit einer erneuten Kontaktaufnahme<br />
mit dem eigenen Körper bietet:<br />
»[...] denn <strong>di</strong>e Kontaktaufnahme zu <strong>di</strong>esem entfremdeten Körper gestaltet<br />
sich schwierig und ist oft nur über Leid oder Leidensphantasie<br />
möglich.« 62<br />
Welchen unfasslichen Schmerz hat Lisa als kleines Kind erlitten, als wäre<br />
es eine Schuld, <strong>di</strong>e sie jetzt als Erwachsene bezahlen muss? Aufgrund des<br />
textuellen Umfeldes kann der Leser/<strong>di</strong>e Leserin kein „In<strong>di</strong>z“ für einen sexuellen<br />
Missbrauch finden, aber es hat sicher ein stetiger, psychologischer<br />
Missbrauch stattgefunden. Die sprachliche Gewalt kann genauso furchtbar<br />
rückwirken und <strong>di</strong>e Fitness der betroffenen Person für immer beeinträchtigen:<br />
das erste, grundsätzliche Leid im Leben Lisas war <strong>di</strong>e Kritik<br />
60 Rosemarie Lederer (1998), S. 158 ff.<br />
61 Vgl. Heidrun Ehrhardt und Elisabeth Verbeet, Den Feind beim Namen nennen. Sexuelle<br />
Gewalt gegen Mädchen. In: e.V. (Hrsg.), Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis. Sozialwissenschaftliche<br />
Forschung und Praxis für Frauen, Jg. 10, H. 20, S. 39.<br />
62 So Rosemarie Lederer, Grenzgänger Ich (1998), S. 158-159.