07.10.2013 Aufrufe

Studia austriaca - Università degli Studi di Milano

Studia austriaca - Università degli Studi di Milano

Studia austriaca - Università degli Studi di Milano

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

216 Das Leben in den Worten ~ <strong>di</strong>e Worte im Leben<br />

den Eltern in der Kirche gesessen zu haben. Die kleinste Bewegung, <strong>di</strong>e so<br />

typisch für kleine Kinder ist, <strong>di</strong>e Füße vor- und zurückbaumeln lassen,<br />

wurde vom Vater erbarmungslos unterdrückt:<br />

»Wenn sie ein Bein hatte bewegen wollen, hatte sich seine Hand fester<br />

um <strong>di</strong>e Knie geschlossen. Alle beteten und sangen weiter. Beide<br />

Eltern sahen unverwandt zum Altar nach vorne, und der Vater hielt<br />

ihre Beine still.« (L. L., 3. Folge, S. 46)<br />

Zu <strong>di</strong>esem so repressiv kontrollierten Körper hat das Mädchen keine<br />

harmonische Beziehung entwickeln dürfen: <strong>di</strong>e um das Knie geschlossene<br />

Hand wird zur Metapher (also von der Körpersprache zur verbalen Sprache,<br />

<strong>di</strong>e in der Schrift kristallisiert ist) einer repressiven, hemmenden<br />

Haltung der Eltern, <strong>di</strong>e ihre Tochter gehindert haben, ein freies Selbstbild<br />

zu entwerfen. Im Gegenteil hat sie eine Entfremdung des Körpers erlebt.<br />

Der Körper Lisas unterliegt einer Fremddefinition, <strong>di</strong>e gleich einer Gewalttat<br />

ist: als wäre sie quasi ein Inzest-Opfer gewesen, versucht sie stän<strong>di</strong>g<br />

zu gehen, in Bewegung zu sein, den Körper so schnell wie möglich, so oft<br />

wie möglich zu vergessen.<br />

Dazu erinnert Rosemarie Lederer daran, dass <strong>di</strong>e Fluchtbewegung aus<br />

dem eigenen misshandelten, deshalb als böse, mitschul<strong>di</strong>g erkannten Körper<br />

sich aus dem lähmenden Gefühl des aktiven Schul<strong>di</strong>gwerdens durch <strong>di</strong>e<br />

weibliche Körperlichkeit entwickelt:<br />

»Den Körper verlassen, nicht fühlen, den Körper verweigern, den<br />

Körper mißachten, Flucht in <strong>di</strong>e körperlich-geistige Totenstarre<br />

[...].« 59<br />

Die Essstörungen, Anorexie und Bulimie (unter beiden Formen leidet<br />

Lisa abwechselnd) sind mit dem psychosozial determinierten Prozess der<br />

Sexualverweigerung in Zusammenhang zu bringen. Was Lisa betrifft, kann<br />

sicher nicht von Sexualverweigerung geredet werden, aber <strong>di</strong>ese weibliche<br />

Figur ist auch nicht imstande, sich als Sexualwesen positiv zu bewerten<br />

und sich als solches befrie<strong>di</strong>gend einzustellen.<br />

Beim Begräbnis des Vaters wird genau geschrieben, wie Lisas Flucht<br />

aus dem Körper geschieht:<br />

»Lisa war sehr dünn geworden und ihre Kleider viel zu weit. Lisa<br />

hatte beim Begräbnis das Gefühl, es gingen der neue Mantel und der<br />

59 Rosemarie Lederer (1998), S. 157.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!