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Studia austriaca - Università degli Studi di Milano

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Evelyn Schlag: Die Sehnsucht nach dem Gespräch 51<br />

hereinbricht, sondern allmählich reift dank der Gefühle, der Ahnungen, der<br />

Emotionen, <strong>di</strong>e der Mensch nicht verdrängen sollte. So heißt es bei Rilke:<br />

»Ich glaube, daß fast alle unsere Traurigkeiten Momente der Spannung<br />

sind, <strong>di</strong>e wir als Lähmung empfinden, weil wir unsere befremdeten<br />

Gefühle nicht mehr leben hören. Weil wir mit dem Fremden,<br />

das bei uns eingetreten ist, allein sind; weil uns alles Vertraute und<br />

Gewohnte für einen Augenblick fortgenommen ist; weil wir mitten<br />

in einem Übergang stehen, wo wir nicht stehen bleiben können. [...]<br />

Wir können nicht sagen, wer gekommen ist, wir werden es vielleicht<br />

nie wissen, aber es sprechen viele Anzeichen dafür, daß <strong>di</strong>e Zukunft<br />

in solcher Weise in uns eintritt, um sich in uns zu verwandeln, lange<br />

bevor sie geschieht« 19<br />

Diese Interpretation des Schicksals als etwas von innen Kommenden,<br />

das sich in uns vorbereitet hat, fasziniert <strong>di</strong>e Autorin Evelyn Schlag, <strong>di</strong>e bei<br />

einer solchen Idee <strong>di</strong>e Rolle des Physischen, des Körperlichen, <strong>di</strong>e<br />

Notwen<strong>di</strong>gkeit der Nähe zur sinnlichen Realität des Menschen notiert:<br />

»Insgesamt hat <strong>di</strong>e Vorstellung vom reifenden, heranwachsenden<br />

Schicksal im Menschen drin mit all seinen Assoziationen zu organischem<br />

Wachstum etwas Me<strong>di</strong>zinisches.« 20<br />

Diese Vorstellung scheint dem von altgriechischer Philosophie geprägten<br />

Begriff der Entelechie zu entsprechen: das Schicksal, und bei <strong>di</strong>esen<br />

Autoren/Autorinnen das Schreiben, sollte also im Sinne der Entelechie<br />

gedeutet werden: „<strong>di</strong>e Vollendung in sich habend“ – ist Entelechie nach<br />

Aristoteles <strong>di</strong>e Fähigkeit, sich nach ursprünglich angelegter Form zu entwickeln<br />

bzw. »[...] <strong>di</strong>e aktuelle Verwirklichung der in einem Seienden angelegten<br />

Vermögen und Möglichkeiten.« 21<br />

Schreiben setzt das Bewusstsein voraus, dass der Mensch alle seine Fähigkeiten<br />

und Intuitionen aktivieren soll, um sich authentisch zu verwirklichen<br />

und sich kreativ zu äußern. Das wird von Evelyn Schlag zum Beispiel<br />

an zwei Figuren deutlich dargestellt, der männlichen in Brandstetters Reise<br />

und der weiblichen Ich-Erzählerin in Die Kränkung. Alle Figuren in Evelyn<br />

Schlags Texten erscheinen aber sehr leben<strong>di</strong>g, indem sie auch das<br />

19 Rainer Maria Rilke, ebenda.<br />

20 Evelyn Schlag, „Und seiner linken Hand gegeben: sie.“ Über den Tod, das Weiterleben, <strong>di</strong>e<br />

Hand. In: Keiner fragt mich je, wozu ich <strong>di</strong>ese Krankheit denn brauche, S. 112.<br />

21 Vgl. dazu den Artikel über „Entelechie“ im Band Metzler Philosophie Lexikon (1999),<br />

S. 134.

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