Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
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Evelyn Schlag: Die Sehnsucht nach dem Gespräch 57<br />
ein Eigenleben Anspruch erheben. Trotzdem ist sich <strong>di</strong>e Stimme der<br />
Autorin der Notwen<strong>di</strong>gkeit bewusst, jegliche absolute Wahrheit abzulehnen,<br />
obwohl sie mit Sicherheit weiß, dass sie für ihre eigenen Figuren zu<br />
kämpfen bereit ist, denn »[...] <strong>di</strong>e Parteilichkeit ist auf der richtigen Seite.« (ebd.)<br />
Die Schriftstellerin betont von Anfang an <strong>di</strong>e Rolle ihrer Schreibtätigkeit,<br />
da sie weder eine Freun<strong>di</strong>n noch eine Mitwisserin ist, <strong>di</strong>e etwas über jemanden<br />
von jemandem erfahren hat, sondern nur eine Erzählerin:<br />
»Ich sage absichtlich „nur“ ihre Erzählerin, um <strong>di</strong>e Relativierbarkeit meiner<br />
Aussagen anzumelden.« (Ebd.)<br />
Programmatisch wird nämlich behauptet, dass <strong>di</strong>e Autorin über keine<br />
allwissende Perspektive verfüge, im Gegenteil wolle sie subjektiv einen Lebensabschnitt<br />
– unter den möglichen – einer einzelnen Frau erzählen. In<br />
der Epoche der Postmoderne weiß man/frau nämlich, dass nur relative,<br />
provisorische, subjektive Ziele gesetzt und verfolgt werden können, in der<br />
Ablehnung jedes Absoluten, jeder absoluten Wahrheit, jeder endgültigen<br />
Gewissheit. Nach der philosophischen Auffassung des Relativismus hängen<br />
Sein und Geltung einer Sache immer von den Erfahrungs- und Erkenntnisbe<strong>di</strong>ngungen<br />
eines oder mehrerer Subjekte ab: so wird etwas (in<br />
<strong>di</strong>esem Fall <strong>di</strong>e Erzählperspektive, <strong>di</strong>e bewusste und programmatisch erklärte<br />
Position der Fiktionsurheberin) als relativ (im Gegensatz zu absolut)<br />
bezeichnet, wenn es hinsichtlich eines bestimmten Gesichtspunktes nur<br />
durch Bezugnahme auf etwas anderes (bzw. den gewählten Lebensabschnitt)<br />
bestimmt wird. Und seine Relativität liegt gerade in <strong>di</strong>eser Bezogenheit.<br />
Das Adjektiv (und das entsprechende Wort Relativierbarkeit) ist<br />
schon genug bedeutungsbeladen und richtungsweisend sowohl auf der<br />
Ebene der Literatur als auch in ethischer Hinsicht, denn es weist auf einen<br />
Relativismus hin, der keine Gleichgültigkeit impliziert, sondern vielmehr<br />
eine philosophische Relevanz hat. 37<br />
Die subjektiven Erkenntnisbe<strong>di</strong>ngungen des schreibenden Subjektes<br />
bestimmen also <strong>di</strong>e Perspektive, aus der <strong>di</strong>e Geschichte erzählt werden<br />
soll, aber zur gleichen Zeit beanspruchen sie keine absolute Gültigkeit in<br />
Bezug auf <strong>di</strong>e Objekte, <strong>di</strong>e beschrieben werden sollen.<br />
Nachdem <strong>di</strong>ese kursiv markierte Stimme des schreibenden Subjektes <strong>di</strong>e<br />
Erzählsituation konturiert hat, weist sie auf <strong>di</strong>e Möglichkeit verschiedener<br />
Lebensmöglichkeiten hin: Wie sie einen bestimmten Abschnitt aus der<br />
Existenz einer einzelnen Person ausgewählt hat, so kann der Mensch in<br />
37 Vgl. den entsprechenden Artikel im Band Metzler Philosophie Lexikon (1999), S. 505.