Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
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Marlene Streeruwitz: Eine Poetik des Suchens 227<br />
der sich eine literarische Qualität als Textpraxis, <strong>di</strong>e <strong>di</strong>e Collage zum Prinzip<br />
erhoben hat, der das Banale „erhaben“ vorstellt, erweist sich als<br />
durchaus ernsthafter Bericht, als bewusster Befund der Solo-Frauen, als<br />
mit traurigem Lächeln konstruierter Antiroman, der ironisch <strong>di</strong>e Auswirkungen<br />
<strong>di</strong>eser Strategie der Entfremdung in einer streng geordneten Gesellschaft<br />
enttarnt, als einen Roman, der eine Bildung der Seele in Gang<br />
bringen kann, indem der Leser/<strong>di</strong>e Leserin versteht, wie er/sie zur Duldung<br />
und Resignation erzogen, „zugerichtet“ wurde, und deshalb zu keiner<br />
Selbstaffirmation und konsequent zu keinem „erfüllten“ Leben gelangen<br />
kann, so lange man/frau nicht den Mut findet zur Äußerung und<br />
Verwirklichung des existentiell notwen<strong>di</strong>gen Anspruchs auf <strong>di</strong>e Harmonisierung<br />
von Integrität des Leibs und des Geists.<br />
Da <strong>di</strong>e Kunst Authentizität auf der Grundlage von frei entfalteter In<strong>di</strong>vidualität<br />
erreichen soll, bedeutet das weder Naivität noch allgemeine Regellosigkeit:<br />
»Hier geht es um in<strong>di</strong>viduelle Regellosigkeit und freie Wahl der Regeln<br />
auf der Basis <strong>di</strong>eser persönlichen Regellosigkeit.« 76<br />
Das Zerbrechen der <strong>di</strong>chterischen Worte ist im Allgemeinen innerhalb<br />
eines epochalen Kontextes zu betrachten: wie der italienische Philosoph<br />
Gianni Vattimo geschrieben hat, ist <strong>di</strong>e post-histoire durch <strong>di</strong>e Erkenntnis<br />
gekennzeichnet:<br />
»Das Kunstwerk ist das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit, insofern als<br />
Wahrheit [...] das Sichöffnen der geschichtlich-geschicklichen Horizonte<br />
ist, innerhalb deren jede Verifizierung von Aussagen möglich<br />
wird [...].«<br />
In der post-histoire weiß der Mensch, dass <strong>di</strong>e Wahrheit als (ein) Ereignis<br />
zu denken ist:<br />
»Aber <strong>di</strong>e Tatsache, da <strong>di</strong>e Wahrheit, <strong>di</strong>e Öffnung, innerhalb deren<br />
<strong>di</strong>e Welt sich jeweils den geschichtlichen Menschheiten ergibt, Ereignis<br />
und nicht stabile Struktur (etwa von der Art des Kantischen<br />
Transzendentalen) ist, verändert tiefgreifend das Wesen der Wahrheit.«<br />
77<br />
76 Marlene Streeruwitz, Sinn & Sein. Und <strong>di</strong>e Beobachtung der Beobachtung. In: Und. Sonst.<br />
Noch. Aber. Texte 1989-1996, S. 84.<br />
77 Gianni Vattimo, Das Zerbrechen des <strong>di</strong>chterischen Wortes. In: Das Ende der Moderne. Aus