Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
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Marlene Streeruwitz: Eine Poetik des Suchens 205<br />
sagen zu können, um sie nicht am Rand des Diskurses als eine Spur<br />
zu hinterlassen, <strong>di</strong>e sofort ausgelöscht und vergessen würde.« 39<br />
Eine solche Funktion strebt – zumindest meiner Interpretation nach –<br />
<strong>di</strong>e Literatur von Marlene Streeruwitz an: der Schrift wird der Wert zuerkannt,<br />
den Frauen zum Sprechen und konsequent zum Agieren zu verhelfen.<br />
Nicht umsonst wird an manchen Stellen das „männliche“ akademische<br />
Dozieren ironisiert: Damit Bedeutungen vermittelt werden, geht es nicht<br />
mehr darum, sie schön verpackt zu verteilen, als eindeutige Produkte eines<br />
identifizierenden Denkens, als „Strahlungen“ eines „männlichen“ Logos<br />
zu verkaufen. Es geht vielmehr darum, Risse, Bruchstücke zu zeigen, kleine<br />
Sinnaggregate, <strong>di</strong>e aus der Unzertrennbarkeit von Ratio und Emotio entspringen<br />
und nicht auf Lust verzichten wollen.<br />
Die Frage: »Was hilft das einem beim ersten Blick in den Spiegel am<br />
Morgen« ist also zu beantworten in engem Zusammenhang mit der Poetik<br />
des Banalen, mit der Poetik des Schweigens.<br />
» ›Der Punkt, Frau Streeruwitz. Der Punkt. Ist das nun eigentlich<br />
künstlich für Sie. Oder. Ist das ein Bedürfnis. Können Sie vielleicht<br />
gar nicht anders.‹ « 40<br />
Poetik und Lebensbedürfnis der schreibenden Frau sind unzertrennlich,<br />
ihre Identität konstituiert sich aus dem Versuch, eine weibliche Sprache<br />
zu erobern, auch um existentielle Abgründe zu bewältigen:<br />
»Immer, wenn mich <strong>di</strong>e Nachricht erreicht, jemand habe sich selbst<br />
umgebracht, immer. Und <strong>di</strong>e Nachricht erreicht einen häufig. Immer<br />
denke ich dann wieder an <strong>di</strong>e Kluft. [...] Eine Kluft, <strong>di</strong>e sich als Abgrund<br />
in einem selbst öffnet und in <strong>di</strong>e zu stürzen dem Selbst in sich<br />
droht.« 41<br />
Die Urgenz, eine Poetik zu entwerfen, eine neue Schreibweise zu finden,<br />
entspricht gerade dem existentiellen und literarischen Bedürfnis, den<br />
Abgrund des Unsagbaren zu überspringen, der Gefahr des Schweigens zu<br />
entfliehen, <strong>di</strong>e Drohung der Abwesenheit in der Sprache durch Zersplitterung<br />
der Sprache selbst zu beschwören, um »[...] einen neuen, einen anderen<br />
Glanz zu retten.« 42 Durch ein solches Schreiben wird es auch möglich,<br />
39 Wanda Tommasi, Die Versuchung des Neutrums, S. 124-125.<br />
40 Marlene Streeruwiz, Können. Mögen. Dürfen. Sollen. Wollen. Müssen. Lassen., S. 37.<br />
41 Marlene Streeruwitz, Sein. Und Schein. Und Erscheinen., S. 48.<br />
42 Marlene Streeruwitz, Können. Mögen. Dürfen. Sollen. Wollen. Müssen. Lassen., S. 55.