Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
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Evelyn Schlag: Die Sehnsucht nach dem Gespräch 81<br />
Brandstetter fühlt sich schul<strong>di</strong>g, weil er an <strong>di</strong>eser von ihm selbst als „Lethargie“<br />
bezeichneten Willensschwäche leidet, während der Kollege Herbig<br />
sich stän<strong>di</strong>g aktiv zeigt, denn:<br />
»[...] er war betriebsorientiert motiviert.« (BR, S. 72)<br />
Auch <strong>di</strong>e Ehekrise scheint irreparabel zu sein, und das wird durch einen<br />
letzten Streit angekün<strong>di</strong>gt: Der Protagonist artikuliert sein Leiden, indem<br />
er über Migräne klagt, und Regine wirft ihm vor, zu sensibel zu sein. Die<br />
Frau verspottet ihn, indem sie seine Weiblichkeit auslacht:<br />
»Du feiner Kerl, schrie sie, du sensibler – Hampelmann!« (BR, S. 93)<br />
Das Wort „Hampelmann“, das für ihn <strong>di</strong>e Zärtlichkeit, <strong>di</strong>e liebe Aufmerksamkeit<br />
einer anderen Frau, der Puppennäherin Lilly, bedeutet, wird von<br />
Regine als Schimpfwort benutzt: zum letzten Mal schluckt er den Hass, <strong>di</strong>e<br />
Feindseligkeit der Ehefrau hinein: »Brandstetter schluckte, spürte das<br />
Lachen.« Dann entscheidet er endlich, einen Strich unter alle Kompromisse zu<br />
ziehen, seine verlorengegangene Kraft irgendwo zu suchen:<br />
»Keine rohen Worte mehr. Du hast alle Flüche vergessen. Du<br />
sprichst endlich eine wunderbare Rede. Kannst sagen, was du <strong>di</strong>r<br />
wünschst. Daß du nicht mehr allein sein willst.« (BR, S. 96)<br />
Das Zusammenleben mit einer anderen Frau soll aber nie wieder ein<br />
<strong>di</strong>chtes Geflecht aus Schuldsprüchen und Aggression sein (BR, S. 83), eine Feindseligkeit,<br />
<strong>di</strong>e aus der Verleugnung der intimsten Wünsche entspringt. Für eine<br />
mögliche Zukunft, für eine neue, andere Lebensform sehnt er sich nach<br />
einer Dimension, in der Phantasie und Träume herrschen, eine Projektion<br />
der Seele, <strong>di</strong>e durch <strong>di</strong>e Sprache sichtbar wird: er spielt mit dem Namen<br />
der Geliebten Lilly, mit dem Buchstaben l, der ihn an <strong>di</strong>e Kindheit, an <strong>di</strong>e<br />
tiefen Wurzeln seines Lebens erinnert:<br />
»Ich hatte als Kind doch einen Sprachfehler, das l rutschte so schwer<br />
von der Zunge, staute sich, brach sich.«<br />
Als Therapie gegen <strong>di</strong>e Verleugnung der Wünsche, gegen <strong>di</strong>e Stauung<br />
des Buchstaben l verspricht er sich immer mehr Sätze mit möglichst vielen<br />
l zu sagen:<br />
»Die lila Lola und der gelbe Ali laufen nach Lappland.« (BR, S. 73)<br />
Die Glossolalie, das Spiel mit den Buchstaben soll vielleicht als Entfesselung<br />
der Phantasie, als fröhliche Wiederkehr zur präö<strong>di</strong>palen Phase, oder<br />
zumindest als Abschied von einer streng geregelten Dimension in-