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Studia austriaca - Università degli Studi di Milano

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Evelyn Schlag: Die Sehnsucht nach dem Gespräch 65<br />

gegengesetzte Richtung zu gehen, und Symptome, <strong>di</strong>e an Mitmenschen<br />

beobachtet werden, in Worte, in Sätze, in Texteinheiten, in eine Geschichte<br />

zu verwandeln. 43<br />

In ihrem Werk hat Christina von Braun auf <strong>di</strong>e verschiedenen Formen<br />

der Hysterie hingewiesen, zunächst <strong>di</strong>e frühe Form, <strong>di</strong>e »den Gegensatz<br />

von Abstraktion und sinnlich wahrnehmbarer Realität verdeutlicht«, dann<br />

<strong>di</strong>e neuere, <strong>di</strong>e „anorektische Hysterie“, <strong>di</strong>e aus der Existenz zweier Realitäten<br />

entsteht, aus der Trennung von Körper und Kopf, von Geist und<br />

Materie, wobei aber <strong>di</strong>e zwei Realitäten einander zum Verwechseln ähnlich<br />

sehen, und zuletzt eine Massenhysterie, eine Art von „Kunst-Hysterie“,<br />

bei der das große ICH in den Vordergrund getreten ist an <strong>di</strong>e Stelle des<br />

ichs, wie es etwa bei den Massendemonstrationen evident erscheint.<br />

Schließlich möchte ich kurz, aber programmatisch, eine bedeutungsvolle<br />

Bemerkung Christina von Brauns zitieren – schon im ersten Abschnitt<br />

zu Evelyn Schlag erwähnt –, <strong>di</strong>e eine entscheidende Rolle bei der<br />

Textauswahl und bei meinem Interpretationsverfahren spielte: Wie kann<br />

das, was wir unter dem allgemein negativ gemeinten Begriff der Hysterie<br />

verstehen, beurteilt werden? Ist es möglich, <strong>di</strong>esem Wunsch nach Authentizität<br />

positive, leben<strong>di</strong>ge Kräfte zuzuordnen, zumindest im Sinne der<br />

Kreativität? Ist <strong>di</strong>ese Stimmung vielleicht auch produktiv, weil sie Energien<br />

für neue Denkweisen schenken kann? Das muss jeder für sich selbst<br />

entscheiden, bemerkt von Braun, ob <strong>di</strong>e Hysterie nur als Krankheit oder<br />

sogar als Symptom von Gesundheit zu betrachten ist. 44<br />

Von der Perspektive der feministischen Literaturwissenschaft aus könnte<br />

auch <strong>di</strong>e „Krankheit“ oder einfach <strong>di</strong>e Krise des Protagonisten von Brandstetters<br />

Reise als männliche Hysterie bezeichnet werden. Seit dem 19. Jahrhundert<br />

werden nämlich <strong>di</strong>e Bezeichnung und der Begriff der männlichen<br />

Hysterie verwendet, wenn es um Männer geht, <strong>di</strong>e den Körper zum Feind<br />

des Geistes machen, also <strong>di</strong>esen Zwiespalt zwischen Körper und Geist<br />

schmerzhaft erleben.<br />

»Während <strong>di</strong>e weibliche Hysterie <strong>di</strong>e Vernichtung der Frau, ihre<br />

Verwandlung in „sprachlose“ Materie oder in <strong>di</strong>e geschlechtslose<br />

„Mutter“ zu bekämpfen hatte, ging es beim männlichen Hysteriker<br />

43 Vgl. Christina von Braun, Nicht ich: Logik, Lüge, Libido, S. 12-14.<br />

44 Vgl. in Christina von Braun (1994), S. 17, den Hinweis auf den Artikel von E. Slater,<br />

„Diagnosis of Hysteria“. In: Brit. Med. Journal, 1965, I, 2, S. 1396.

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