Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
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112 Das Leben in den Worten ~ <strong>di</strong>e Worte im Leben<br />
Für Joachim, den Gudrun soeben kennen gelernt hat, ist <strong>di</strong>ese Geschichte<br />
aber fremd. So beginnt Gudrun, <strong>di</strong>esem Mann aus Ly<strong>di</strong>as Briefen<br />
vorzulesen: er kann also keine Vorurteile haben, zumindest keine vorgefasste<br />
Meinung. Zur gleichen Zeit ahnt sie aber, dass auch <strong>di</strong>e eigene, noch<br />
nicht angefangene Geschichte auf ähnliche Weise enden könnte, während<br />
sie <strong>di</strong>e Dichterin Marina Zwetajewa zitiert, d.h. sich an ein geliebtes, beiden<br />
bekannten Modell anlehnt:<br />
» ›Ein Jahr lang habe ich den Haken gesucht. Jetzt habe ich ihn gefunden. Marina<br />
Zwetajewa.‹<br />
Was für eine Geschichte erzähle ich <strong>di</strong>r da, dachte Gudrun. Mit welcher<br />
Geschichte lernst du mich kennen? Es gibt Dinge, <strong>di</strong>e müssen<br />
für immer so bleiben. Und es gibt Dinge, <strong>di</strong>e bleiben gegen unseren<br />
Willen so, wie sie sind.« (U.F., S. 51)<br />
Gudrun erzählt, wie sie nach dem Selbstmord der Freun<strong>di</strong>n und Arbeitskollegin<br />
Ly<strong>di</strong>a deren Vater in der leeren Wohnung getroffen habe.<br />
Gudrun weigerte sich damals, dem Vater Ly<strong>di</strong>as etwas von der Freun<strong>di</strong>n<br />
erzählen. Auch Ly<strong>di</strong>a erzählte wenig vom Vater, immer so, als sei er schon<br />
gestorben. Die Sprache ist – wie mehrmals in <strong>di</strong>eser Arbeit beobachtet –<br />
entscheidend für unsere Ich-Konstitution sowie für <strong>di</strong>e Gestaltung der<br />
Beziehungen zur Umwelt: wenn man/frau <strong>di</strong>e Art und Weise analysiert, in<br />
der jemand von einem anderen Menschen spricht, kann man/frau daher<br />
entziffern, welches sprachliche und emotionale Verhältnis zwischen den<br />
beiden besteht.<br />
»Ly<strong>di</strong>a sagte: ›Mein Vater ist eine laufende Kreissäge. Es ist besser,<br />
ihm nicht zu nahe zu kommen.‹ « (U.F., S. 49)<br />
Das schwierige Verhältnis hing nämlich von den Worten des Vaters,<br />
nicht von seinen Gesten ab. Was hatte er ihr getan? Nichts. Er hatte sie<br />
nicht geschlagen oder missbraucht. Die Gewalt, <strong>di</strong>e der Vater ausübte, war<br />
nicht physisch, sondern eher sprachlich: seine Schärfe kam also von seinen<br />
Worten, von der Anredeform, von den Reden, von den unerbittlichen,<br />
unwiderruflichen Urteilen.<br />
»Was hatte er ihr getan? Nichts. Er hat sie nicht geschlagen oder<br />
mißbraucht. [...] Er hat ihre liebsten Dinge verspottet. Er hat über<br />
alles endgültig geurteilt. Er hat wie ein Kommandant das Haus betreten.<br />
Ich wiederhole ihre Worte. Als er dann neben mir im Zimmer<br />
stand, spürte ich <strong>di</strong>ese Schärfe nur ansatzweise, weil ich mich an Ly<strong>di</strong>as<br />
paar Sätze über ihn erinnerte.« (U.F., S. 49)