Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
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120 Das Leben in den Worten ~ <strong>di</strong>e Worte im Leben<br />
Die Perspektive von Linda Götz ist eine ganz andere, sie geht eher<br />
sensibel und mit Aufmerksamkeit gegenüber den Gefühlsbewegungen der<br />
unbekannten Dame aufmerksam vor: Linda versucht, sich <strong>di</strong>ese Frau vorzustellen<br />
(„knapp über siebzig, selbstbewusst“), deswegen stellt sie Vermutungen<br />
an:<br />
»War HR der einzige große Funke in <strong>di</strong>esem Leben gewesen? Der<br />
einzige interessante Mann, an den sie geraten war, und dann nichts<br />
mehr, nur ermüdende Vergleiche, das Wissen, daß sie von ihrem<br />
Ehemann, <strong>di</strong>esem Beamten der Landesregierung, gewisse Sachen<br />
nicht erwarten durfte, aber dafür nahm er sie Jahr für Jahr mit auf<br />
den Ball im Landhaus in Graz.« (U.F., S. 84)<br />
Else Bartsch hat ein offizielles Leben geführt, und zwar neben ihrem<br />
Mann, einem Beamten der steirischen Landesregierung: ihre öffentlichen<br />
Auftritte kann man also präzis aufzählen und bezeugen. Ihr Mann war<br />
vielleicht kein interessanter Mensch, aber sie hat Jahr für Jahr von seinen<br />
Mitteln gelebt.<br />
»Sie hatte seinen Namen, sie durfte damit Geld von der Bank abheben,<br />
sie konnte sagen: ›mein Gatte und ich‹.« (U.F., S. 84)<br />
Im gesamten Tagebuch- und Briefwerk HRs hingegen gibt es keine<br />
Else Bartsch. Der Autor hat sein Geheimnis offenbar gut gehütet.<br />
Vielleicht, so denkt Linda, hat <strong>di</strong>ese Frau keinen Platz in seinem Leben<br />
gehabt. Vielleicht hat sie gelogen, weil sie einen Spaß mit dem hundertsten<br />
Geburtstag des großen Schriftstellers machen wollte.<br />
Vielleicht, so vermutet Widmer, hatte sie dem mehr als dreißig Jahre<br />
älteren Schriftsteller ein oder mehrere Ge<strong>di</strong>chte geschickt, und er hatte ihr<br />
seine Aufmerksamkeit verweigert: so wolle sie sich jetzt einfach rächen.<br />
Die Erzählung thematisiert also schon von Anfang an ein literaturhistorisches<br />
Problem, indem <strong>di</strong>e Lesenden durch <strong>di</strong>e Reflexionen der beiden<br />
Protagonisten zum Nachdenken über <strong>di</strong>e Schwierigkeit kommen, eine<br />
Geschichte mit einer erlebten Existenz zu verflechten, oder besser: einen<br />
Lebenszusammenhang zu rekonstruieren. Es entstehen spontan Fragen,<br />
<strong>di</strong>e noch einmal <strong>di</strong>e Verantwortung für das Schreiben zu beleuchten versuchen.<br />
»Wie schreibt man eine Biografie? dachte Linda. Wie erzählt man ein<br />
fremdes, verschlossenes Leben?« (U.F., S. 86)<br />
Auch <strong>di</strong>e Körpersprache trägt dazu bei, <strong>di</strong>eses sensible Nachdenken zu<br />
reproduzieren. Dem inneren Monolog, den Fragen, <strong>di</strong>e Linda an sich