Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
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Evelyn Schlag: Die Sehnsucht nach dem Gespräch 127<br />
Dazu erklärt Widmer gedul<strong>di</strong>g:<br />
» ›Meine Erklärung ist <strong>di</strong>e, daß er ab einem gewissen Alter nicht mehr<br />
<strong>di</strong>e Energie aufbrachte, sich aus <strong>di</strong>eser Umklammerung zu lösen. Er<br />
lebte mit <strong>di</strong>esen Verrenkungen, wie man mit einem chronischen, lästigen,<br />
aber erträglichen Leiden lebt. [...]‹ « (U.F., S. 99)<br />
Nicht umsonst erläutert <strong>di</strong>e männliche Figur Widmer zur gleichen Zeit<br />
auch <strong>di</strong>e eigene Ich-Konstitution, das Gefühl, sich schämen zu müssen für<br />
eine Haltung, <strong>di</strong>e er als Ernst bezeichnet, obwohl er weiß, dass sie auch<br />
Feigheit genannt werden könnte, wie es ihm in der Schulzeit manchmal<br />
passierte:<br />
» ›Ich war manchmal wirklich feige‹, fuhr er fort. ›Ich habe zum Beispiel<br />
nie spekuliert bei Prüfungen, schon in der Schule nicht. [...]<br />
Aber ich spürte <strong>di</strong>e Freiheit der anderen, einiger weniger anderer, in<br />
dem anarchistischen Raum, den sie schufen. Sie gaben mir das Gefühl,<br />
ich sei lebensuntüchtig, ich würde nicht durchkommen im Leben.‹<br />
« (U.F., S. 105)<br />
Um durchkommen zu können und auf <strong>di</strong>e erreichten Positionen nicht<br />
verzichten zu müssen, verwirklichen <strong>di</strong>ese Männer ihre Leben<strong>di</strong>gkeit nicht,<br />
folgen dem Élan vital nicht, und dabei versäumen sie das eigentliche<br />
Leben.<br />
Sicher ist der Kampf zwischen dem Pflichtgefühl und dem Liebeswunsch<br />
egoistisch; aber eine ungeheure Energie braucht der Mensch auch,<br />
um ein entfremdetes Leben weiterzuführen. In <strong>di</strong>eser Hinsicht sollten <strong>di</strong>e<br />
Reflexionen Brandstetters in der schon erwähnten Erzählung Evelyn<br />
Schlags wiedergelesen werden:<br />
»Das Dunkeln mit seiner Leuchtsprache erschien ihm vertrauter als<br />
Regine. Wir haben es nicht verstanden, uns zu bewahren, dachte er.<br />
Wir haben uns verloren, weil wir uns entwür<strong>di</strong>gt haben. Das ist das<br />
Schlimmste, was passieren kann. Wir ergeben keinen Sinn mehr füreinenander.«<br />
(BR, S. 118)<br />
Das Grundproblem liegt in der unkritischen Annahme der von der<br />
Gesellschaft vorgeschriebenen Rollenmuster: So mussten Ehefrauen früher<br />
für den Haushalt sorgen und dafür dürfen sie nicht verlassen werden.<br />
In Wirklichkeit sollten <strong>di</strong>e In<strong>di</strong>viduen aber frei sein, zu entscheiden, in jeder<br />
einzelnen Lebensphase, ohne jemanden zu betrügen, ohne sich selbst<br />
zu verleugnen, ohne auf <strong>di</strong>e eigenen Ziele verzichten zu müssen.