Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
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110 Das Leben in den Worten ~ <strong>di</strong>e Worte im Leben<br />
Liebesaktes mit ihren neuen Lauten. Es gibt immer <strong>di</strong>e Möglichkeit,<br />
das zu meinen, was der Partner im Liebesakt meint, und doch nicht<br />
das zu meinen. Das Wort bekommt dabei sakralen Charakter [...].« 105<br />
Gudrun ist Ghostwriterin: ihre Arbeit, <strong>di</strong>e sicher genau, aber zugleich<br />
auch phantasievoll sein muss, ist eine Art, sich mit der Welt zu konfrontieren.<br />
Indem man/frau Berichte, Reden, Vorträge schreibt, gewöhnt<br />
man/frau sich auch daran, <strong>di</strong>e Konturen der Welt sensibel und respektvoll<br />
zu profilieren.<br />
» ›Und was schreiben Sie da für ihn? Welche Worte legen Sie ihm auf <strong>di</strong>e<br />
Zunge?‹ « (U.F., S. 40)<br />
Das fragt Joachim, nachdem Gudrun erzählt hat, dass sie für einen alten<br />
Mann Briefe an eine Frau schreibt.<br />
Durch das Schreiben hat man/frau <strong>di</strong>e Möglichkeit, sich für oder gegen<br />
etwas einzusetzen, eine Wechselwirkung zwischen der eigenen Phantasie und<br />
der realen Welt herzustellen.<br />
Es handelt sich, wie <strong>di</strong>e Autorin auch betont, um eine sprachmagische<br />
Arbeit, <strong>di</strong>e es einem/einer erlaubt, neue Konturen zu entdecken, Beziehungen<br />
anzuknüpfen, Perspektiven zu eröffnen.<br />
In seiner Arbeit betont Ernst Leisi zum Beispiel, dass es sogar zum<br />
Wesen der Dichtung gehört, der hohen wie der trivialen, <strong>di</strong>e erst halbbewusst<br />
und -geformten Gefühle des Lesers/Hörers in eine feste, bewusste<br />
und verfügbare Gestalt zu bringen. Dazu behauptet er, dass eine wesentliche<br />
Funktion der Dichtung darin besteht, Geburtshelferin der Gefühle zu sein:<br />
»Mit <strong>di</strong>esem Ausdruck ist angedeutet, daß <strong>di</strong>ese Funktion nicht ausgeübt<br />
werden kann, wenn nicht ein Keim vom Gefühl bereits da ist,<br />
daß aber <strong>di</strong>ese Gefühle nicht zur Welt kommen können ohne sie.« 106<br />
Die ersten Momente der Beziehung zwischen Joachim und Gudrun<br />
entwickeln sich aus Fragen, aus nicht gestellten Fragen, aus Antworten,<br />
aus halben Antworten. Dann kommt der klare Fragesatz, der gerade den<br />
Anfang der Mann-Frau-Beziehung darstellt:<br />
»Sie spürte, wie sich ein großes Glücksgefühl in ihr ausbreitete, als er<br />
mit aller Selbstverständlichkeit im Taxi fragte: ›Wo wohnen Sie?‹ «<br />
(U.F., S. 53)<br />
105 Evelyn Schlag, Der Nachklang allerfremdesten Lebens (2000), o. S.<br />
106 Ernst Leisi (1993), S. 89.