Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
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Marlene Streeruwitz: Eine Poetik des Suchens 223<br />
zahlen müssen, für eine partielle Autonomie, <strong>di</strong>e von den anderen nicht<br />
verziehen wurde.<br />
Eine zweite, ebenso wichtige Erinnerung fällt ihr etwas später beim Einkaufen<br />
„leistungsfähiger“ Sportschuhe auf: mit 12 Jahren trainierte sie im<br />
Leichtathletikclub und war sogar sehr gut gewesen beim Laufen und Weitspringen.<br />
Nur Hochspringen war ihr nie gelungen: über <strong>di</strong>e Latte springen<br />
zu können erforderte eine Entschiedenheit und eine Selbstsicherheit, <strong>di</strong>e sie<br />
nie erworben hat. Jetzt erscheint aber alles verschwommen und fernliegend:<br />
»Lisa hofft nicht. Sie trinkt ihr Dietcoke und denkt, daß das alles<br />
doch leichter wird mit dem Älterwerden. Lisa kann sich nicht mehr<br />
so verloren fühlen wie vor 10 Jahren.« (L. L., 3. Folge, S. 31)<br />
Ein drittes Erinnerungsstück betrifft <strong>di</strong>e längst vergangene Geschichte<br />
mit einem Mann, Wondrak: sie hatten eine Beziehung, <strong>di</strong>e rasch und unerwartet<br />
wegen eines Polizeiverhörs unterbrochen wurde, ohne weitere<br />
Erklärungen. Hätte es eine Fortsetzung für jene Beziehung geben können,<br />
wenn das Verhalten beider nicht so passiv gewesen wäre?<br />
»Würde sie sich heute so einfach versetzen lassen? Würde sie sich<br />
wegschieben lassen wie damals? Würde sie Wondrak so einfach nie<br />
wieder sehen? Ihm seine Briefe ungelesen zurückschicken, als wäre<br />
alles ihre Schuld? Würde sie heute den schönen Spiegel zurücktragen<br />
und nichts sagen?« (L. L., 3. Folge, S. 31-32)<br />
Allmählich beginnt <strong>di</strong>e Protagonistin zu verstehen, dass ihr Scheitern<br />
am Leben gerade von <strong>di</strong>esen Schuldgefühlen abhängt. Aber jetzt ist es<br />
vielleicht zu spät, um mit irgendeinem Mann wieder anzufangen. In der<br />
Tat begegnet sie bei einem Diner einem Mann, der ihr ein ungewöhnliches<br />
Kompliment macht: sie habe ein intelligentes Gesicht. Sie lacht, weil sie<br />
lieber hören würde, dass sie ein schönes Gesicht habe. Sie weiß, wie wichtig<br />
<strong>di</strong>e schöne Verpackung, das Äußere, in der Gesellschaft ist. Aber weiter<br />
will sie mit <strong>di</strong>esem Menschen nicht reden, der sich vielleicht als interessant<br />
erweisen könnte: so ans Verlieren, ans Verlorensein, ans Verlassenwerden<br />
gewöhnt, verzichtet sie jetzt freiwillig auf einen Austausch von Worten<br />
und vielleicht Gesten, weil sie einfach das Gefühl des Überdrusses verinnerlicht<br />
hat und nicht mehr zurückgewiesen werden will:<br />
»Enttäuscht werden ist eines, denkt sie. Sich enttäuschen lassen etwas<br />
anderes.« (L. L., 3. Folge, S. 36)