Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
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Evelyn Schlag: Die Sehnsucht nach dem Gespräch 123<br />
fragt – aus welchem Grund liebt der Biograph so sehr das Objekt<br />
seiner Recherche?«<br />
Zu <strong>di</strong>esem Punkt soll eine Frage erwähnt werden, <strong>di</strong>e Linda Hermann<br />
Widmer im Text stellt:<br />
» ›Verraten Sie mir, warum? Was an ihm – welches Detail, welche<br />
Szene, welche Situation?‹ « (U.F., S. 97)<br />
In seiner Antwort weist Widmer auf <strong>di</strong>e Empfindlichkeit <strong>di</strong>eses Mannes<br />
hin, abgesehen von seinem Werk:<br />
»In den Kränkungsbüchern aus den vierziger Jahren gibt es eine Stelle,<br />
<strong>di</strong>e mich nie mehr losgelassen hat. [...] Die Stelle lautet: Man hat mir<br />
oft vorgeworfen, ich sei rasch gelangweilt, ich zeige meine Langeweile durch ein arrogantes<br />
Gähnen. Die Wahrheit ist, daß ich sehr oft gerührt bin und <strong>di</strong>ese Rührung<br />
unter dem Gähnen verstecke. Seit der Kindheit habe ich Angst vor meinen<br />
Tränen gehabt.« (U.F., S. 97)<br />
Der Schriftsteller war im höchsten Maße sensibel, und das habe den<br />
Biographen als Menschen sehr beeindruckt. Deswegen zitiert er gerne <strong>di</strong>e<br />
Stelle aus den Kränkungsbüchern, indem er – da ist <strong>di</strong>e ironische Perspektive<br />
der Autorin zu erkennen! – genau präzisiert:<br />
»Nicht, weil sie literarisch so wertvoll wäre.«<br />
Beim Mittagessen wiederholt Linda einen Satz Kiplings, der <strong>di</strong>e Komplexität<br />
des biographischen Schreibens wieder andeutet:<br />
» ›Biografie ist höherer Kannibalismus. Sagt Kipling.‹ « (U.F., S. 111)<br />
Die Übertreibung durch <strong>di</strong>e Anwendung des Wortes Kannibalismus verdeutlicht<br />
aber klar <strong>di</strong>e Schärfe und <strong>di</strong>e oft gewaltige Kraft, <strong>di</strong>e man<br />
braucht, um das Leben der anderen mit den Mitteln der Kunst darzustellen.<br />
Das Interesse und <strong>di</strong>e Bereitschaft <strong>di</strong>esem Prozess gegenüber beweisen<br />
immerhin eine Art Liebe, indem sie zumindest den Versuch darstellen,<br />
sich <strong>di</strong>esen Figuren, <strong>di</strong>esen Mitmenschen anzunähern.<br />
Am Ende der Erzählung erklärt <strong>di</strong>e Dame während des Gesprächs mit<br />
Linda und Hermann das Verhalten ihres geliebten Schriftstellers:<br />
» ›Sie werden sich fragen, warum ich das nie jemandem erzählt habe.<br />
Warum ich bis jetzt nichts gesagt habe. [...] Der Mann hätte einen<br />
perfekten Mord begehen können. Er verwischte immer seine Spuren.‹<br />
« (U.F., S. 125)<br />
Else meint, dass <strong>di</strong>e Interpretationsversuche immer an der Überraschung<br />
der realen Umstände scheitern müssen: