Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
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Evelyn Schlag: Die Sehnsucht nach dem Gespräch 95<br />
zählerin auf, sich zu verschenken, noch schneller, noch wilder zu leben<br />
und zu schreiben:<br />
»Schreib <strong>di</strong>ch in ein mörderisches Tempo hinein, sagt Kathleen [...].<br />
Schreib <strong>di</strong>ch ein Schreiben, das <strong>di</strong>r keine Zeit mehr läßt, das <strong>di</strong>r fast<br />
<strong>di</strong>e Luft nimmt, <strong>di</strong>r bleibt gerade genug Luft zu atmen, was du<br />
brauchst für <strong>di</strong>e nächsten Sekunden.« (Die Kr., S. 46)<br />
Schreiben entspricht in Wahrheit einer Überlebensstrategie, Schreiben<br />
wird als der verzweifelte Versuch erlebt, sich dem innersten Schmerz zu<br />
entziehen:<br />
»Laß nicht zu, was <strong>di</strong>r wehtut, <strong>di</strong>e Schnüre um deine Brust, <strong>di</strong>e Stiche<br />
im Rücken, laß <strong>di</strong>ch krankwerden dabei und nichts mehr verantworten,<br />
es müssen nur noch <strong>di</strong>ese Sätze aufs Papier, das ist Leben,<br />
das ist Kraft, das ist deine Arbeit.« (Die Kr., S. 47)<br />
Und als Parallele zu <strong>di</strong>esen „weiblichen“ Figuren will ich <strong>di</strong>e Ethik des<br />
Schreibens und der Liebe eines Mannes zitieren, der Dichter ist und<br />
Schreiben als Äquivalent zum Dasein erlebt:<br />
»Wunderbares kann nur im Klima von Freiwilligkeit geschehen. [...]<br />
Man muss also geben, ohne dafür etwas zu erwarten; darf sich nicht<br />
verkaufen und auflösen, nicht für Geld, nicht für Ideen; sich hingeben,<br />
sich verschwenden, so entsteht Leben<strong>di</strong>gkeit [...].« 80<br />
Da <strong>di</strong>e Ich-Erzählerin in Die Kränkung <strong>di</strong>e Liebe Jacks nicht mehr hat,<br />
beginnt sie zu leiden, seelisch und körperlich. Wieso leidet sie so sehr –<br />
anscheinend auf unerträgliche Weise wegen der Abwesenheit ihres Mannes?<br />
Im Unterbewusstsein könnte der Grund dafür verankert liegen, in dem<br />
während der Kindheit erlittenen Abschied von der Mutter und in der<br />
Unmöglichkeit, sich mit der Vaterfigur positiv konfrontieren zu können:<br />
Die Liebe als symbolische Idealisierung des Anderen und als Streben nach<br />
Vereinigung mit ihm sei – so hat Julia Kristeva erklärt – ›Verneinung‹<br />
(›dénégation‹) des Verlusts der Mutter. 81<br />
Welcher „unverwechselbare“ Schmerz verwirrt sie so innerlich?<br />
80 Christoph Wilhelm Aigner, Engel der Dichtung, S. 51.<br />
81 So Julia Kristeva in Histoires d’amour, Paris 1983 und in Soleil noir. Dépression et mélancolie,<br />
Paris 1987. – Vgl. dazu den entsprechenden Artikel im Band Metzler Lexikon Literatur-<br />
und Kulturtheorie (1998), S. 286-287.