Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
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Evelyn Schlag: Die Sehnsucht nach dem Gespräch 53<br />
Eng mit <strong>di</strong>eser Hellhörigkeit verbunden profiliert sich <strong>di</strong>e Sehnsucht<br />
nach dem Gespräch, <strong>di</strong>e Evelyn Schlags Literatur charakterisiert und qualifiziert.<br />
Diese Autorin stellt sich stets <strong>di</strong>alogisch ein, indem sie Beziehungen<br />
zu anderen schreibenden Subjekten, zu fremden Literaturen, zu bekannten<br />
oder unbekannten Seelen pflegt. Sie glaubt sehr an <strong>di</strong>e potenziell<br />
unendlichen Bereicherungen, <strong>di</strong>e für eine Ich-Konstitution aus der Seelenverwandtschaft<br />
entspringen können. Sie zitiert gerne den Satz, den<br />
Ariadna Efron über ihre Mutter Marina Zwetajewa schrieb:<br />
»Bevor man das Recht hat, Ge<strong>di</strong>chte zu lieben, muß man den Dichter<br />
selbst lieben.« 25<br />
Instinktiv, spontan, absichtslos soll sich <strong>di</strong>ese Affinität jedes Mal ankün<strong>di</strong>gen,<br />
zum Beispiel wie sie Mitte der siebziger Jahre, fünf Jahre nach<br />
ihrer ersten Tuberkuloseerkrankung – während ihres Anglistikstu<strong>di</strong>ums –<br />
John Keats zu lieben lernte:<br />
»Mit traumwandlerischer Sicherheit, ohne Näheres über Keats’ Lebens-<br />
und Sterbensumstände zu wissen wählte ich mir [...] einige seiner<br />
Ge<strong>di</strong>chte. Ich stürzte mich geradezu auf <strong>di</strong>e Biografie von Robert<br />
Gittings und erlebte zum erstenmal den Prozeß einer völligen<br />
Identifikation mit einem toten Dichter.« 26<br />
Ein besonderes Augenmerk hat sie aber auf das Werk der Schriftstellerin<br />
Katherine Mansfield gerichtet, <strong>di</strong>e als Kathleen Beauchamp geboren<br />
wurde:<br />
»Mit Katherine Mansfield verbindet mich eine ganze Menge. Ich<br />
hatte ihre Krankheit (Lungentuberkulose), aber sechzig Jahre später,<br />
das machte den Unterschied aus. Für sie gab es keine me<strong>di</strong>zinische<br />
Heilung. Ihr Kampf gegen das Gefühl des Verlassenseins, von allen<br />
guten Geistern im Stich gelassen zu sein, ist etwas, das ich in jedem<br />
Wort verstehe. Sie hat sich durch <strong>di</strong>e Krankheit zu einem ganz essentiellen<br />
Menschen gewandelt, das muß man in ihren Tagebüchern<br />
nachlesen.« 27<br />
25 Marija Belkina, Die letzten Jahre der Marina Zwetajewa, Frankfurt/M.: Insel Verlag,<br />
1991, S. 308. Diese Aussage zitierte Evelyn Schlag in ihrem Text Alle Krankheit verwandelte<br />
Liebe? Über Tuberkulose und Literatur. In: Keiner fragt mich je, wozu ich <strong>di</strong>ese Krankheit denn brauche,<br />
S. 146.<br />
26 Evelyn Schlag, ebenda.<br />
27 Christina Pumplun, „Gespräch mit Evelyn Schlag“. In: Deutsche Bücher, Amsterdam:<br />
E<strong>di</strong>tions Rodopi, 1995, Jg. XXV, H. 3, S. 167.