Studia austriaca - Università degli Studi di Milano

Evelyn Schlag: Die Sehnsucht nach dem Gespräch 75
Kein Mann hat den Mut, sich selbst und den anderen offen zu gestehen,
»was Streß wirklich ist«. (BR, S. 45)
Auch der Chef Brandstetters, der an einem Magengeschwür leidet, ist
also ein Opfer dieses Unbehagens, dieser Spaltung zwischen Körper und
Geist, zwischen Lust- und Realitätsprinzip.
»Ein Getriebener. Zuletzt vertrieben aus sich selber. Nur im Exil des
Magengeschwürs hielt sich der Rest der verratenen Wünsche.« (BR,
S. 45)
Vor der Gesellschaft darf der Mensch nicht zugeben, dass er/sie sich
eines Teils des eigenen Ichs, der eigenen Sensibilität, der eigenen Gefühlswelt
beraubt fühlt.
»Etwas Psychisches kommt nicht in Frage. Man ist ja nicht verrückt.
Gestreßt sind alle.« (BR, S. 45)
Und der Grund für den Verlust der Harmonie, des Gleichgewichts wird
von Brandstetter im Verhalten der gehassten Frau erkannt, die kein
Verständnis zeigt, keine Liebe, keine Zärtlichkeit mehr:
»[...] die alles falsch versteht, falsch auslegt, falsch auslegen will«. (BR,
S. 45)
Nach dieser Gedankenflucht, die er selbst oder besser die erzählerische
Instanz mit zwei elliptischen Fragesätzen bezweifelt (»Lange nach der
Flucht, der geträumten? und wessen Flucht? fand er sich wieder.« BR, S.
45) kommt er wieder bewusst zur Realität, wie von der Erzählebene zu erfahren
ist:
»Er zwang sich, die paar Stufen in das Geschäft hinunterzusteigen.«
(BR, S. 45)
Es ist, als ob er nach so vielen Reflexionen und der präzis formulierten
Selbstdiagnose für seine „Krankheit“ jetzt endlich in die innersten Tiefen
des Bewusstseins hinuntersteigen kann. Und da kommt eine neue Frauenfigur
hervor:
»Sie fragte, ob sie ihm helfen könne.« (BR, S. 45)
Von der seltsamen Puppennäherin will er zuerst nichts akzeptieren; die
Logik zwingt ihn, einen Vorwand zu finden:
»Er wollte ja nichts hier. Er war ja nur zufällig hierhergekommen.«
(BR, S. 46)