Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
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Marianne Fritz: Der verdächtige Glanz der „glatten“ Sätze 173<br />
»Klein-Berta schürzte ihre Lippen und sagte: ›Bei so einer Mutter.‹ «<br />
Da fragt Berta überrascht, indem sie <strong>di</strong>e Fremdbestimmung der Aussage<br />
erkennt:<br />
» ›Woher hast du nur solche Redensarten?‹ «<br />
Anstelle von Berta antwortet der Bruder, der damit <strong>di</strong>e Quelle <strong>di</strong>eses<br />
Satzes und der impliziten Wertung bestätigt:<br />
» ›Von mir‹, antwortete Rudolf und kratzte sich am Hinterkopf. ›Und<br />
ich weiß es von der Tante Wilhelmine.‹ « (S.V., S. 67)<br />
Die Hilflosigkeit der Mutter wächst bei dem darauf folgenden Gespräch<br />
mit der Lehrerin. Wieder stellt sich Berta passiv auf eine fremdbestimmte<br />
Lösung in sprachlicher Form ein: sie wartet unvernünftig darauf,<br />
dass <strong>di</strong>e Fremde das befreiende Wort über sie und ihre weibliche Schöpfung aussprechen<br />
wird.<br />
Die Erzählebene verrät, dass <strong>di</strong>e schreibende Instanz hier wieder <strong>di</strong>e<br />
Klischees des Weiblichen reproduziert: Das Gefühl der eigenen Minderwertigkeit<br />
und das Schuldgefühl, <strong>di</strong>e in der Psyche verankert sind, lassen<br />
<strong>di</strong>e Mutter sich mit-verantwortlich fühlen an den Umständen. Aber sie<br />
kann nichts erwidern, sie ist nicht in der Lage, weder psychisch (als sensible,<br />
leicht beeinflussbare Kreatur), noch kulturell, noch gesellschaftlich <strong>di</strong>e<br />
Situation zu verändern. So fleht Berta <strong>di</strong>e Lehrerin an, anstatt sich auf das<br />
Schulsystem zu beziehen: »Geben Sie ihr doch noch ein Jahr Zeit.«<br />
Sehr brutal erklärt aber <strong>di</strong>e Frau Lehrerin, dass ihre Entscheidung,<br />
Klein-Berta in eine Sonderschule zu versetzen, vielleicht nicht vom Kind<br />
selbst abhängt, sondern eher von der Tatsache, dass sie 40 Kinder zu unterrichten<br />
hat:<br />
» ›Liebe Frau Schrei. Vielleicht lernt Berta wirklich leicht. Nur. In<br />
Anbetracht der Umstände. Ich habe 40 Kinder in meiner Klasse. [...]<br />
Stellen Sie sich vor. Vierzig Hirne hinterfragen. Das ist unmöglich;<br />
schier unmöglich! [...]. Aber können Sie mir vielleicht sagen, wie ich<br />
mit meinem Stoff durchkommen soll, wenn ich vierzig Hirne hinterfragen<br />
muß?! Das ist einfach nicht machbar.‹ « (S.V., S. 69)<br />
Auch <strong>di</strong>e eher berechtigte Sorge der Mutter untertreibt sie mit dem<br />
Verb „übersiedeln“:<br />
» ›Liebe Frau Schrei. Sie messen <strong>di</strong>eser kleinen Versetzung zu viel<br />
Bedeutung bei. Was geschieht denn schon? Berta übersiedelt, das ist<br />
alles.‹ « (S.V., S. 69)