Das Gold von Maraskan - Darpatien

IX. Kapitel: Das Gold von Maraskan
Odilon schlug die Augen auf. Einen Augenblick lang wusste er nicht, wo er sich befand und seine Hand suchte
instinktiv nach dem Pfosten seines Bettes im heimatlichen Gallys. Das sanfte Murmeln des Perlenmeers weckte mit
seinen Sinnen zugleich die Erinnerung. Natürlich, das hier war Maraskan und Sigismund war tot.
Den Sternen nach zu urteilen, die über seinen Kopf funkelten, war die Stunde des Morgengrauens nicht mehr fern.
Obwohl ihm der Kampf immer noch in den Knochen steckte, erhob er sich ächzend. Eine kleine, rotbleiche
Sandkrabbe stakste neben ihn über den Strand. Odilon wollte ob des possierlichen Anblicks bereits lächeln, dann
entsann er sich, dass es die Körper der Gefallenen waren, die die kleinen Krabben anzog.
Tatsächlich lag bereits süßlicher Verwesungsgeruch in der Luft. Die Rebellen hatten die Leichen der Gefallenen in
den Dschungel geschleppt, den Käfern und wilden Tieren zum Fraß und sie zuvor gründlich gefleddert. Nun schien
es, als sei das Nuraner Banner wieder zum Leben erwacht und schlummere um einige Lagerfeuer am Strand (in der
Kapelle, wo so viele Gefährten ums Leben gekommen waren, wollte niemand nächtigen, auch Odilon nicht). Der
Gallyser bewunderte die List der Maraskaner: So wie sie nun ausstaffiert waren, mit den blutroten Mänteln und
Waffen der Paktierer, musste sie jedermann für Soldaten des Fürstkomturs halten.
Ächzend stand er auf und klopfte sich den nassen Sand aus den Beinkleidern. Die Nacht war kühl und er konnte
etwas Wärme vertragen. Steifbeinig schritt er auf eines der Wachfeuer zu. Ein Posten der Sira Jerganak sprach ihn
nervös an, die Hand an der Armbrust. Odilon nannte schnell die Parole – der Name irgendeiner maraskanischer
Spezialität, mochten die Göttlichen Geschwister wissen, aus welcher Laune die Rebellen darauf gekommen waren -
und ging auf das Feuer zu. Auch der Maraskaner nickte zufrieden, schulterte die Armbrust und schlenderte auf den
Urwald zu, wo die Zikaden zirpten und Glühwürmchen tanzten.
Odilon rieb sich die Hände am wohlriechenden Feuer, dessen Rauch den Aasgestank ein wenig milderte und die
Insekten fernhielt. Dann fesselte irgendetwas die geschulte Aufmerksamkeit seines Waldläuferblicks. Was für eine
seltsame Spur - ganz so, als sei hier ein riesiges, achtbeiniges Insekt den Strand entlang gelaufen. Ach ja, die
Maraske. Mißtrauen keimte in Odilon auf, als er sah, wohin die Spur führte. Geradewegs auf die Stelle zu, wo seine
Gefährten schliefen. Verdammt, war er nicht schon wieder die ganze Zeit zu vertrauensselig gewesen. Er kannte
diese Rebellen doch kaum, und in ihren Augen war er immer noch ein Mittelländer, der in Begleitung eines
Inquisitors der Praioskirche reiste, also ein möglicher Feind.
Odilon folgte der Spur, der, wie er nun bemerkte, auch noch die Fußstapfen eines Menschen beigefügt waren. Der
weißhaarige Rebell?! Die Fährte endete am Körper des selig schnarchenden Alrik, dessen Hand auf seinem
Rucksack ruhte. Der Rucksack war geöffnet. Merkwürdig, üblicherweise pflegte der Friedwanger ihn im
Dschungel zu schließen, schon allein damit einem keine unliebsame Überraschung hineinkroch. Den Spuren nach
zu urteilen hatte jemand den Rucksack durchsucht und dann wieder unter die Arme des Schlafenden geschoben.
Nun, die Fußspuren führten eindeutig zum Meer. Als Odilon ihr folgte, stieß er schon bald auf einen Schatten, der
im Mondschein auf einem der Felsen saß und sich über etwas beugte.
Odilon machte einen Schritt auf ihn zu, als ein böses Zischen ihn an die staksigen Abdrücke von Maraskenfüßen
erinnerte. Eine beinahe mannshohe Spinne war aus den Schatten getreten, sträubte das borstige Fell und begann
sich zu drehen. Ein giftglänzender Stachel wies nun genau auf den Waldläufer. Odilon wusste, dass das Tier kurz
vor einem Angriff stand. Die Spinne schien, ihrer Körpergröße nach zu urteilen, sehr alt zu sein – und sehr giftig.
"Lass gut sein, Lilibetjida!" sagte der weißhaarige Rebell im überraschend akzentfreien Garethi. "Er ist ein
Freund!" Langsam drehte er sich um, griff in einen Umhängebeutel an seiner Seite und warf dem Untier etwas zu,
das wie ein gesprenkelter Pilz aussah. Wie ein leidlich beruhigter Wachhund drehte sich das Tier wieder um und
begann mit seinen Beißzangen den Brocken zu zerkleinern und einzuspeicheln. Bizarre Facettenaugen musterten
Odilon immer noch misstrauisch, der es immer noch nicht wagte, näher zu treten. Diese Spinne war ein tödlicher
Gegner. Der Greis wandte sich wieder dem Buch zu, das auf seinen verschränkten Beinen lag, und blätterte weiter.
"Für einen Greis habt ihr scharfe Augen, wenn Ihr das Tagebuch des Alboran von Friedwang beim Lichte des
Madamals zu lesen vermögt, Marajin von Tuzak!" Odilons Stimme klang ruhig und übertönte gerade noch das
ewige Murmeln der Brandung.
„Greis? Ihr irrt euch. Ich zähle keine sechzig Drehungen der Weltenscheibe. Es ist der Dschungel, der meinen Leib
altern ließ, der Dschungel und der Krieg. Meine Augen sind so scharf wie die eines Marans. Aber hört nicht auf
meine eitlen Worte. Tretet näher, Odilon Wildgrimm. Meine achtbeinige Freundin wird Euch nichts tun,
vorausgesetzt, Ihr macht keine all zu rasche Bewegung."
Der Gallyser nickte und stieg auf das schwarzglänzende Basaltgestein hinauf.
"Setzt Euch doch." Marajin wies ihm den Platz. Odilon ließ sich nieder, ebenfalls im Schneidersitz. "Gewiss, ich
bin Marajin von Tuzak. Wie habt Ihr mich so schnell erkannt?"
"Nun, es sind die Priester der Eukolizana, die sich als einzige auf die Kunst der Zähmung der Maraske verstehen.
Ihr seid also schon einmal ein Diener des Rur und Gror. Außerdem sprecht ihr mit Tuzaker Dialekt, der hier oben
sehr selten zu vernehmen ist. Das richtige Alter habt Ihr ebenfalls, auch wenn ich mir Euch wirklich älter
260