Das Gold von Maraskan - Darpatien

"Diese Betrachtungsweise ist..." wollte Odilon unterbrechen.
"die reine Wahrheit, wenn ihr selbst ehrlich zu Euch seid. Ihr braucht mir nicht zu antworten, es reicht völlig aus,
wenn Ihr Euch selbst nicht belügt. Ihr könnt einen Menschen im Kampf töten. Oder vielleicht auch aus Rache,
wenn es um etwas sehr persönliches geht. Aber ihr habt Angst davor, eine notwendige Entscheidung zum Nachteil
eines Dritten zu treffen."
"Zum Nachteil eines Dritten? Redet man so über das Leben eines Menschen? Auch wenn er ein Pirat ist?"
"Und noch eines will ich Euch erzählen. Im 17. Jahr der Regentschaft Hals fassten Eure Gardisten einen flüchtigen
Raubmörder. Doch statt ihn dem Henker zu Überantworten, wie Jorgan Trimmdel, seinerzeit Richter zu Gallys,
urteilte, habt ihr ihn in den Kerker gebracht, um noch einmal über das Urteil zu sinnieren. Nach einer Woche
gelang dem Schurken die Flucht, und auf der Flucht stach er einen Eurer Gardisten, der das Pech hatte, Wache zu
haben, nieder. Hättet Ihr Eure Pflicht getan wäre Euer Mann noch am Leben. Deswegen sage ich Euch ins Gesicht,
dass ihr ein schlechter Baron gewesen seid. Ihr habt die Euch Schutzbefohlenen nicht ausreichend beschützt. Plagt
Euch Euer Gewissen, dass Ihr schuld am Tod des Gardisten seid? Allein deswegen, weil Ihr damals nicht genügend
Strenge besessen habt seid Ihr zurückgetreten. Ihr seid mit Eurer Verantwortung nicht zu Recht gekommen. Habt
Ihr aus Euren Fehlern gelernt? Oder wollt ihr wieder Euch nahestehende Menschen verlieren, weil ihr
Schwerverbrecher schonen und Euer Gewissen beruhigen wollt?“
Odilon schwieg. Alles, was der Inquisitor erzählte, entsprach den Tatsachen. Selbfried war wahrlich ein fähiger
Inquisitor. Es stimmte, Odilon hatte in Kämpfen zahlreiche Gegner besiegt, aber noch nie hatte er aus nüchterner
Berechnung und aus Überlegung heraus leichtfertig über das Schicksal oder gar das Leben anderer Menschen
entschieden. Und auch darin hatte der Inquisitor Recht. Sein Rücktritt als Baron zu Gallys war nicht nur durch die
Liebe zu Jirka motiviert gewesen. Es war zu gewissen Teilen auch eine Flucht vor der Verantwortung gewesen.
War es das, was einen guten Herrscher auszeichnete? Die Härte, zum Wohle der Mehrheit einen einzelnen zu
strafen? Wenn es so war, dann hatte Selbfried Recht. Er war möglicherweise ein guter Jäger und Kämpfer, aber er
war vermutlich kein guter Baron gewesen.
"Nun gut. Ihr habt Euren Standpunkt sehr überzeugend dargelegt. Ich schlage also vor, dass wir die nachweislich
mit den finsteren Mächten paktierenden Piraten, also namentlich Kobad, Linne und Svanja nebst der ranghöchsten
Piratin, Xenia, Efferds Urteil überantworten. Sie werden mit dem einem der beiden Beiboote ausgesetzt mit fünf
Litern Wasser pro Person und Proviant für zwei Tage. Zoltan, Fedor und Dusan sollen vor die Wahl gestellt
werden, uns die Treue zu halten oder aber das Schicksal der ersten vier zu teilen." Selbfried nickte. Er wusste, dass
er von Odilon kein härteres Urteil erwarten konnte. Er hätte die Piraten am liebsten tot gesehen. Mit dem Beiboot
würden sie vermutlich die oronische Küste erreichen können. So würden die Schurken wohl ungestraft bleiben und
vermutlich demnächst auf einem anderen Schiff das Perlenmeer durch ihre Anwesenheit besudeln. Aber immerhin
waren dann die vier übelsten Schurken von Bord, und ohne die Rädelsführer dürfte es möglich sein, die
verbliebenen Piraten unter Kontrolle zu halten.
Und noch zu einer weiteren Überzeugung gelangte der Inquisitor. Odilon und dessen Gefährten mochten verrückt
sein, eine Reise nach Schwarzmaraskan zu unternehmen. Sie waren gewiss nicht die Praiosgefälligsten in ihrem
Handeln und Denken. Aber Überläufer, Verräter und mit dem Bethanier im Bunde, das waren sie in seinen Augen
nicht mehr.
Hätte Odilon zu diesem Zeitpunkt seinen Blick nach Westen gerichtet und gesehen, was sich da für Dunkle Wolken
am Himmel ballten, vielleicht hätte er sich anders entschieden.
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