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Gewaltdelinquenz – Lange Freiheitsentziehung – Delinquenzverläufe

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Frieder Dünkel<br />

ist. Die in den 1970er und 1980er Jahren auch in der Justiz verbreitete Kritik<br />

an der lebenslangen Freiheitsstrafe und insbesondere ihrer obligatorischen<br />

Androhung bei Mord hatte (abgesehen von Umgehungsstrategien durch die<br />

restriktive Auslegung von Mordmerkmalen) über die häufige Annahme<br />

strafmildernder Gesichtspunkte dazu geführt, dass noch im Jahr 1990 lediglich<br />

etwa die Hälfte der verhängten Strafen tatsächlich die lebenslange Freiheitsstrafe<br />

betrafen (51,4 %). Seit Mitte der 1990er Jahre hat sich dieser Anteil<br />

deutlich erhöht, 2004 lauteten 80 % der wegen vollendeten Mordes ergangenen<br />

Urteile auf „lebenslänglich“ (2006: 70 % und 2008 bezogen auf<br />

Gesamtdeutschland 78 %). Diese weniger ausgeprägte Zurückhaltung der<br />

Justiz bei der lebenslangen Freiheitsstrafe hat dazu beigetragen, dass die<br />

Zahl der „Lebenslänglichen“ im Strafvollzug von durchschnittlich ca. 1.000<br />

bis Mitte der 1980er Jahre auf 1.985 im Jahr 2008 angestiegen ist (vgl.<br />

Dünkel/Morgenstern 2010, Tabelle 5).<br />

Dem entspricht die aus empirischen Studien entnehmbare Tendenz einer abnehmenden<br />

Neigung der Sachverständigen, bei Tötungsdelikten eine Dekulpation<br />

gem. § 21 StGB anzunehmen. So wurden bezogen auf 274 Verfahrensakten<br />

aus Bayern und Nordrhein-Westfalen des Jahres 1993 nur noch in<br />

46 % der Fälle strafmildernde Umstände i. S. d. § 21 StGB angenommen<br />

(vgl. Schmidt/Scholz 2000, S. 414 ff.), während in einer Studie von Verrel<br />

(1994, S. 272 ff.; 1995) bezogen auf die 1980er Jahre mit 64 % deutlich<br />

häufiger Dekulpationen bejaht wurden. Die Bejahung voller Schuldfähigkeit<br />

nahm dementsprechend zu (40 % vs. 27 %). Dieser Befund bestätigt die<br />

beschriebene Tendenz, bei vollendetem Mord häufiger als früher die<br />

lebenslange Freiheitsstrafe zu verhängen.<br />

In der Untersuchung von Sessar lag die Relation von Mord zu Totschlag bei<br />

der Anklageerhebung bei 56 % : 44 %, auf der Ebene der Verurteilung kehrte<br />

sich das Verhältnis auf 40 % : 60 % um (vgl. Sessar 1980, S. 198 ff.;<br />

1981). In der Untersuchung von Weiher (1989, S. 380 f.) war der „Schwund“<br />

verurteilter Morddelinquenten gegenüber nur wegen Totschlags Verurteilten<br />

von 58 % : 42 % auf 20 % : 80 % sogar noch extremer. Damit wird die obligatorische<br />

Anordnung der lebenslangen Freiheitsstrafe in der Praxis auch bei<br />

vollendeten Tötungsdelikten zur Ausnahmesanktion. Eine aktuelle Studie am<br />

Lehrstuhl für Kriminologie zur Tötungsdelinquenz in Mecklenburg-Vorpommern<br />

ergab vergleichbare „Schwundquoten“ bei den Tötungsdelikten,<br />

die „Dramatisierungstendenzen“ allenfalls auf der Ebene der Staatsanwaltschaft<br />

andeuten (mit dem Ziel, leichter einen Haftbefehl zu erreichen, hier<br />

gem. § 112 Abs. 3 StPO), während in den nachfolgenden Verfahrensstadien<br />

die schon seit Sessar (1981) bekannten „Entdramatisierungstendenzen“ ein-

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