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Erzählungen des Mittelalters in deutscher Übersetzung und ...

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88es nicht erzählen wollte, e<strong>in</strong>en Groschen zum Vertr<strong>in</strong>ken hergebensollte. Wie der Bischof das hörte, gab er se<strong>in</strong>en Dienern e<strong>in</strong>Zeichen, daß sie schweigen sollten. Lange g<strong>in</strong>gen die Sticheleienh<strong>in</strong> <strong>und</strong> her, bevor e<strong>in</strong>er von ihnen erzählen wollte. Dann begannder e<strong>in</strong>e: „Ich habe viel auf dem Dung arbeiten müssen,<strong>und</strong> der Dunst hat mich vollständig geblendet." Als die anderndas hörten, wollten sie nicht erzählen, entweder weil sie <strong>in</strong>folgee<strong>in</strong>es schweren Verbrechens bl<strong>in</strong>d geworden waren, oder aus e<strong>in</strong>emanderen Gr<strong>und</strong>e. Doch der erste machte sie auf ihren Vertragaufmerksam, <strong>und</strong> so begann der zweite nach langem Schweigen :„Ich war e<strong>in</strong> Mann, kräftig an den Gliedern wie e<strong>in</strong> Wildeber;so g<strong>in</strong>g ich mit Schwert <strong>und</strong> Lanze bewaffnet <strong>in</strong> den Wald <strong>und</strong>tötete alle, denen ich begegnete, alle<strong>in</strong> <strong>und</strong> beraubte sie. E<strong>in</strong>staber griff ich e<strong>in</strong>en Jüngl<strong>in</strong>g an, der gewandt <strong>und</strong> kräftig war,<strong>und</strong> dieser warf mich durch se<strong>in</strong>e Geschicklichkeit zur Erde. Alser mich aber erstechen wollte, flehte ich ihn an, er solle mirdafür die Augen ausreißen. Das tat er auch, <strong>und</strong> so b<strong>in</strong> ichbl<strong>in</strong>d geworden." Der dritte aber hatte e<strong>in</strong>e noch schändlichereTat auf dem Gewissen <strong>und</strong> wollte sie auf ke<strong>in</strong>en Fall erzählen;auch der Vertrag, den sie vorher abgeschlossen hatten, konnte ihndazu nicht bewegen. Endlich aber ließ er sich durch die Bitten<strong>und</strong> Drohungen se<strong>in</strong>er Genossen bestimmen <strong>und</strong> erzählte folgen<strong>des</strong> :„Ich kannte e<strong>in</strong>en Bürger, der sehr reich war; der hatte e<strong>in</strong>ee<strong>in</strong>zige Tochter, die re<strong>in</strong>en Herzens war <strong>und</strong> das Gelübde getanhatte, als Jungfrau zu leben, die frommen Verkehr pflegte <strong>und</strong>fleißig dem Gebete oblag. Diese Jungfrau war so schamhaft,daß sie nie zuließ, daß man an ihr e<strong>in</strong>e unbedeckte Stelle sah.Und als sie alt genug geworden war, hoffte sie all das, was siewünschte, <strong>in</strong> dem Kloster zu f<strong>in</strong>den, <strong>in</strong> dem sie bisher verkehrthatte. Ihr Vater aber, der sie <strong>in</strong>nig liebte, hoffte, sie wür<strong>des</strong>e<strong>in</strong>e Erb<strong>in</strong> werden <strong>und</strong> er sich durch ihre Verheiratung e<strong>in</strong>flußreicheFre<strong>und</strong>e erwerben; denn sie war fast heiratsfähig. KurzeZeit darauf aber starb sie; <strong>und</strong> der Vater schmückte sie zumBegräbnis, als wenn es ihre Hochzeit wäre, kleidete sie <strong>in</strong> kostbareGewänder aus Seide <strong>und</strong> L<strong>in</strong>nen, schmückte sie mit goldenenR<strong>in</strong>gen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em goldenen Kranze <strong>und</strong> ließ sie so <strong>in</strong> jenemKloster beisetzen. Das sah ich. In der Nacht aber nahm ichGrabwerkzeuge, durchgrub die Mauer <strong>und</strong> grub sie aus, nahm

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