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Erzählungen des Mittelalters in deutscher Übersetzung und ...

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211Schwester; komm <strong>und</strong> lausche me<strong>in</strong>en Worten, bis der Tag anbricht<strong>und</strong> die Schatten der Nacht sich neigen." Das war für denE<strong>in</strong>siedler e<strong>in</strong>e neue Erleuchtung. Als sie aber <strong>in</strong> der drittenNacht im Gebet ausgestreckt lag, sah der E<strong>in</strong>siedler, wie sich dieHeiligen <strong>und</strong> die gesamte Kirche <strong>in</strong> ihrem Gebete mit den Gebetendieses Weibes vere<strong>in</strong>igten <strong>und</strong> ihre Bitten aufstiegen vordie Gottheit, so daß viele Seelen durch ihre Fürbitte aus demFegefeuer erlöst wurden. Am dritten Tage endlich forschte er e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glichnach, wie sie dazu gekommen sei, daß sie so hohe <strong>und</strong>so viele Gnaden verdiene. Sie aber wollte es ihm nicht offenbaren.Da sprach der E<strong>in</strong>siedler: „Die Stimme Gottes hat mich hierhergeschickt, um den Grad dieser Heiligkeit kennen zu lernen, <strong>und</strong>du wür<strong>des</strong>t all de<strong>in</strong> Verdienst vor dem Herrn verlieren, wenn dues mir nicht genau offenbarst." Darauf erzählte ihm das Weib:„Ich b<strong>in</strong> die Liebl<strong>in</strong>gstochter e<strong>in</strong>es Königs gewesen. Aber als iche<strong>in</strong>sah, daß alles Irdische vergänglich ist, habe ich der irdischenHerrschaft <strong>und</strong> all ihrer Pracht entsagt. Heimlich verließ ichme<strong>in</strong>e Eltern <strong>und</strong> entfloh <strong>und</strong> kam <strong>in</strong> diese fremde Stadt, wo ichden Armen, wie du siehst, seit dreißig Jahren diene. Was ichdurch me<strong>in</strong>e Arbeit verdiente,habe ich für die Armen h<strong>in</strong>gegeben."Darauf bat der E<strong>in</strong>siedler: „Offenbare mir etwas von den Gnaden,die dir Gott für de<strong>in</strong>e Tugenden erweist." Und sie sprach: „Wennich <strong>in</strong> der Messe b<strong>in</strong> <strong>und</strong> der Leib Christi vom Priester emporgehobenwird, dann sehe ich den Sohn der Jungfrau gleichsamausgestreckt am Ki'euze <strong>in</strong> den Händen <strong>des</strong> Priesters, <strong>und</strong> wenner den Leib Christi zu sich nimmt, dann geht Christus auch <strong>in</strong>me<strong>in</strong>en M<strong>und</strong> e<strong>in</strong>. Und wenn der Priester den Friedenskuß gibt,dann wird er auch mir von der seligen Jungfrau <strong>und</strong> dem heiligenJohannes gegeben. Das stärkt mich so, daß ich ke<strong>in</strong>e Sünde begehe<strong>und</strong> me<strong>in</strong>e Ke<strong>in</strong>heit nicht verlieren kann." Da ruft der E<strong>in</strong>siedler:„0 wie groß ist de<strong>in</strong>e Heiligkeit, <strong>und</strong> wie groß ist dieGnade Gottes <strong>in</strong> dir!" So erzählte sie ihm noch manches von ihremZustande. „Nichts von alle dem", entgegnet ihr der E<strong>in</strong>siedler,„ist mir bisher geschehen. Ich will heimkehren <strong>und</strong> nie wiederan Gott e<strong>in</strong>e so vermessene Bitte richten; denn noch habe ich <strong>in</strong>mir ke<strong>in</strong>en Beweis der göttlichen Gnade gefühlt,während du mitten<strong>in</strong> der Welt, mitten im Feuer, <strong>und</strong> doch unversehrt, dich so re<strong>in</strong>bewahren <strong>und</strong> Gott so fromm dienen konntest."14*

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