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Erzählungen des Mittelalters in deutscher Übersetzung und ...

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56will ich mich stumm stellen <strong>und</strong> als Bettler Gott dienen." Undwas sie so gesagt hatten, das setzten sie auch <strong>in</strong> die Tat um. Inkurzer Zeit wurde jener, der <strong>in</strong> den Orden e<strong>in</strong>getreten war, Abt,<strong>und</strong> se<strong>in</strong> armer stummer Fre<strong>und</strong> kam oft zu ihm, um zu beichten.So verg<strong>in</strong>gen viele Jahre. Da kam e<strong>in</strong>st der Lan<strong>des</strong>fürst, der jenesKloster gegründet hatte, <strong>in</strong> dem der Kleriker Abt geworden w^ar,<strong>und</strong> bat die Mönche <strong>in</strong>ständig, sie möchten für se<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigenSohn beten, der schwerkrank daniederlag. Das taten sie auch;doch der Knabe fühlte ke<strong>in</strong>e Besserung. Da sprach der Abt: „Ichfürchte, Gott will mich <strong>und</strong> diese frommen heiligen Brüder nichterhören, weil wir reich s<strong>in</strong>d, <strong>und</strong> er hat recht, denn an unseremBesitz freut sich unser Herz mehr als an Gott." Und er sprachzu dem Fürsten: „Das Himmelreich gehört den Armen, <strong>und</strong> Gottschenkt se<strong>in</strong>e Gnade den Demütigen; daher will ich dir e<strong>in</strong>enguten Kat geben. Sieh dir jenen Menschen an, den du hier <strong>in</strong>zerrissenem Kleide <strong>und</strong> stumm e<strong>in</strong>treten sehen wirst. Bitte jenen;denn durch ihn wirst du von Gott erreichen können, was duwünschest." In<strong>des</strong>sen aber kommt e<strong>in</strong> Diener, der die Nachrichtbr<strong>in</strong>gt, der Königssohn sei gestorben. Der König bricht <strong>in</strong> lauteKlagen aus. Und siehe, der Stumme tritt <strong>in</strong> die Kirche e<strong>in</strong>. DerAbt bittet ihn alsbald <strong>in</strong> Anwesenheit <strong>des</strong> Königs, er möchteihnen <strong>in</strong> ihrer Not zu Hilfe kommen. Der Stumme aber deutetihnen durch Zeichen an, daß er nichts tun könne. Aber der Abt<strong>und</strong> der Fürst bitten ihn so e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich, daß er <strong>in</strong> Tränen ausbricht<strong>und</strong> spricht: „Zwar hab ich ke<strong>in</strong>e Verdienste aufzuweisen,die die Erhörung me<strong>in</strong>es Gebetes rechtfertigen, aber da ihr solchesVertrauen dare<strong>in</strong> setzt, werde ich Gott um Erhörung bitten." DerFürst kehrt zu se<strong>in</strong>em Palaste zurück, <strong>und</strong> dort f<strong>in</strong>det er se<strong>in</strong>enSohn lebend. Und als er se<strong>in</strong>e Tochter fragt, was sie mit demKranken getan habe, da antwortet sie: „Ich weiß es nicht." Dafragt er se<strong>in</strong>en Sohn, wie er Leben <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit wiedererhaltenhabe. Dieser spricht: „Selig ist die Armut <strong>des</strong> Geistes <strong>und</strong> dieDemut. Denn als jener Stumme für mich betete, da drang se<strong>in</strong>Gebet alsbald vor Gott, <strong>und</strong> der Herr erfüllte se<strong>in</strong>en Wunsch.Daher sage ich dir, Vater, ich will <strong>in</strong> den Orden der Bettelbrüdere<strong>in</strong>treten <strong>und</strong> dar<strong>in</strong> den Herrn preisen." Und er wurde e<strong>in</strong> Bettelmönch<strong>und</strong> beschloß so nach mannigfachen Entbehrungen se<strong>in</strong>Leben, So mögt ihr sehen, wieviel die Armut gilt.

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