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Erzählungen des Mittelalters in deutscher Übersetzung und ...

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158blick. Nach dem Mahle steht er auf <strong>und</strong> nimmt vom HausherrnAbschied mit den Worten: „Der Speise, die du mir als Gastvorgesetzt hast, bedurfte ich nicht. Und wenn du nicht <strong>in</strong> de<strong>in</strong>erTrunkenheit me<strong>in</strong>er mit törichten Worten gespottet hättest, dannwar ich nie <strong>in</strong> dieser Schreckgestalt bei dir erschienen. Für heutelebe wohl ! Doch <strong>in</strong> acht Tagen sollst du zu gleicher St<strong>und</strong>e dichdorth<strong>in</strong> begeben, wo du mich e<strong>in</strong>geladen hast, zu dem Mahle, dasich dir bereiten will. Und du mußt kommen, ob du es willstoder nicht." Mit diesen Worten verschwand er. Der Hausherraber <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e ganze Verwandtschaft suchten <strong>in</strong> ihrer Angstbei erfahrenen Leuten Rat, wie er der Gefahr entgehen könnte.Doch er erhielt nur den e<strong>in</strong>en Rat, er möge se<strong>in</strong>e Angelegenheitenordnen, <strong>in</strong> wahrer Reue beichten <strong>und</strong> das Sakramentempfangen <strong>und</strong> so geschützt zur festgesetzten St<strong>und</strong>e Gottes Gerichterwarten. Das tat er auch. Und zur gegebenen Zeit g<strong>in</strong>g ermit allen Verwandten an jenen Ort. Da faßt ihn plötzlich e<strong>in</strong>gewaltiger W<strong>in</strong>d, der ihn sanft entführt, ohne se<strong>in</strong>em Leibe e<strong>in</strong>enSchaden zu tun, bis er e<strong>in</strong> w<strong>und</strong>erschönes, jedoch ganz ö<strong>des</strong> Schloßerblickt. Er geht h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>und</strong> f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>en Tisch, der mit e<strong>in</strong>ladendenSpeisen aller Art besetzt ist. Nun ersche<strong>in</strong>t der Tote <strong>in</strong> demselbenZustande wie vorher, grüßt ihn fre<strong>und</strong>lich <strong>und</strong> heißt ihnan dem Tische Platz nehmen, während er sich selbst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er elendbeleuchteten, versteckten Ecke an schmutzigem, mit unsauberemTischtuche bedecktem Tische niederläßt, auf dem ganz schwarzesBrot steht. Traurig <strong>und</strong> wehmütig blickt er se<strong>in</strong>en Gast an dergeschmückten Tafel an, der vor Erstaunen <strong>und</strong> Furcht nichts zugenießen wagt. Schließlich steht der Tote auf <strong>und</strong> spricht zuse<strong>in</strong>em Gaste: „Warum fragst du mich nichts?" Und dieser antwortet:„Ich wage es nicht vor Traurigkeit, da ich nicht weiß,was aus mir werden wird. Und doch möchte ich erfahren, wasdu weißt, <strong>und</strong> welches Geschick mir bestimmt ist." Da erwidertihm der Tote: „Fürchte dich nicht; dir wird nichts geschehen.Das ist alles nur durch die Fügung Gottes dir zur Besserunggeschehen. Wenn du mich Toten nicht so leichtfertig zu dirgeladen hättest, wäre dir dieses nicht begegnet. Über me<strong>in</strong>enZustand aber wisse: E<strong>in</strong>st war ich Richter <strong>in</strong> der Stadt, <strong>in</strong> derdu wohnst. Doch ich dachte nicht an Gott <strong>und</strong> lebte als Schlemmer.Aber da ich e<strong>in</strong> gerechter Richter war, hat Gott mir doch Barm-

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