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Marina Brandtner Diskursverweigerung und Gewalt

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in der Verteilung der politischen Macht. In Wien stieg der Stern der späteren Galionsfigur<br />

der Christlichsozialen, Dr. Karl Lueger, der als Bürgermeister der Reichshauptstadt<br />

von 1897 bis 1910 eine moderne Kommunalpolitik betrieb, auf. Seine<br />

Reden gegen die vermeintlichen mächtigen Vertreter des Liberalismus, das Wiener<br />

Judentum, ließ ihn zum Volkshelden werden. Der politische Katholizismus, eine<br />

weitere wichtige Wurzel des 1887 gegründeten <strong>und</strong> in den 1890er Jahren zur Massenpartei<br />

anwachsenden „Christlichsozialen Vereins“, war von dem katholischen<br />

Sozialreformer, Karl von Vogelsang, bereits in den 1870er Jahren entwickelt worden.<br />

Die im Jahr 1891 veröffentlichte päpstliche Sozialenzyklika „Rerum novarum“ griff<br />

den Gedanken der sozialen Gerechtigkeit für Lohnabhängige auf, welchen der zur<br />

Partei mutierte Christlichsoziale Verein zu einem der brennenden gesellschaftlichen<br />

Probleme des ausgehenden 19. Jahrh<strong>und</strong>erts erhob. Der im darauf folgenden Jahr<br />

von Leopold Kunschak gegründete „Christlichsoziale Arbeiterverein“ spielte sowohl<br />

parteiintern als auch in der Gesamtarbeiterschaft jedoch stets eine untergeordnete<br />

Rolle. Entscheidend für die Geschicke der jungen Partei wurde die katholische Bauernschaft,<br />

die sich länderweise in Bauernvereinen organisierte <strong>und</strong> die Bewegung<br />

außerhalb Wiens auf eine breite Basis stellte. In der Verbreitung des politischen<br />

Katholizismus hatte der niedere Klerus eine Schlüsselrolle gespielt, zunächst von<br />

Wien ausgehend nach dem angrenzenden Niederösterreich, dann in die anderen<br />

Kronländer. Als die Christlichsoziale Partei mit der Katholisch-Konservativen<br />

Volkspartei im Jahr 1907 fusionierte <strong>und</strong> damit zur stärksten Fraktion im Reichsrat<br />

avancierte, war die organisatorische Entwicklung zur Reichspartei praktisch<br />

abgeschlossen. Die hauptsächlich von Großgr<strong>und</strong>besitzern <strong>und</strong> Großagrariern<br />

getragene katholisch-konservative Richtung wirkte sich jedoch auf die ursprünglich<br />

sozialreformatorische Bewegung nachteilig aus. Speziell die Industriearbeiter<br />

fühlten sich eher von der Idee der Sozialdemokratie angezogen, die ihnen bessere<br />

Lebensbedingungen versprach <strong>und</strong> eine „diesseitige“ Heimat bot. Als im Jahr 1910<br />

der populäre Kommunalpolitiker Lueger starb, erlitt die Christlichsoziale Partei<br />

einen ersten schweren Schlag, von dem sie sich in Wien nicht mehr erholen sollte.<br />

Bei den Reichsratswahlen 1911 verlor die CSP Wählerstimmen <strong>und</strong> fiel in Wien<br />

erstmals hinter die Sozialdemokratie zurück. 322<br />

Nach dem Zusammenbruch der Monarchie 1918 <strong>und</strong> dem Verlust jener Parteiorganisationen,<br />

die nun außerhalb des neuen Staatsgebietes lagen, musste die<br />

Reichspartei in eine (deutsch)österreichische Partei umgestaltet werden. In dieser<br />

Übergangsphase konnte auf jene Volksvertreter zurückgegriffen werden, die vor 1918<br />

in den Länderparlamenten <strong>und</strong> im Reichsrat politisch tätig waren. An der Spitze der<br />

Partei standen zwei Prälaten, der oberösterreichische Landeshauptmann Johann<br />

Nepomuk Hauser (1866–1927) <strong>und</strong> der Universitätsprofessor für Moraltheologie<br />

Ignaz Seipel (1876–1932), die sich um die Einheit der Partei <strong>und</strong> um deren politische<br />

Akkordierung mit der römisch-katholischen Kirche bemühten. Auch das im Jahr<br />

1894 gegründete Parteiorgan „Die Reichspost“ sollte sein Scherflein zur Belebung<br />

der Bewegung beitragen. Mit dem Aufbau einer schlagkräftigen Organisation hoffte<br />

322 Kriechbaumer, Politische Kultur, S. 243–252.

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