Marina Brandtner Diskursverweigerung und Gewalt
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Neustadt aufmarschierten. Mit der moralischen <strong>und</strong> finanziellen Unterstützung der<br />
Regierung Seipel konnte die Heimwehr die Herrschaft der Sozialdemokratie über<br />
Wiener Neustadt in Frage stellen, ihr im „Kampf um die Straße“ eine Niederlage<br />
zufügen. Um diese „Schmach“ zu tilgen, veranstaltete der obersteirische Schutzb<strong>und</strong><br />
an demselben Tag einen Aufmarsch in Leoben, bei dem wichtige sozialdemokratische<br />
Führer wie Reinhard Machold <strong>und</strong> Koloman Wallisch versuchten, die Stimmung<br />
der „Daheimgebliebenen“ zu heben. In seiner Eröffnungsansprache bezeichnete<br />
Landesrat Machold das Eindringen der bürgerlichen Wehrformationen in die sozialdemokratische<br />
Domäne als eine ungeheure Provokation, als einen „Stich in das<br />
Herz des niederösterreichischen Arbeiters“. Der Aufmarsch der Heimwehr in Wiener<br />
Neustadt sei nichts anderes als eine Generalprobe für den „Marsch nach Wien“. Im<br />
Gegensatz zur Heimwehr, die den „Betriebsfaschismus“ aufgerichtet hatte, wollten<br />
die sozialdemokratischen Arbeiter nichts lieber als Frieden <strong>und</strong> Freiheit, versicherte<br />
Nationalrat Domes den r<strong>und</strong> 6000 versammelten Schutzbündlern. Die Heimwehr<br />
versuche die Arbeiterschaft mit „schuftigen Mitteln“ zu spalten <strong>und</strong> zu schwächen;<br />
er sei jedoch zuversichtlich, dass jene abspenstig gemachten Arbeiter bald in die<br />
Reihen der Sozialdemokratie zurückkehren würden, um zum Sieg des Sozialismus<br />
beizutragen. Um dieses Ziel zu erreichen, beschwor Schutzb<strong>und</strong>führer Köhler, seien<br />
Schutzbündler <strong>und</strong> Sozialdemokraten gegebenenfalls bereit, den Kampf bis zum<br />
letzten Blutstropfen zu führen <strong>und</strong> für ihre Ideale schließlich zu sterben. 628<br />
Wie nicht anders zu erwarten, wurden die Wiener Neustädter Ereignisse von der<br />
parteigelenkten Presse verschieden dargestellt. Die christlichsoziale „Reichspost“ berichtete,<br />
in Wiener Neustadt habe man keine Spur von den befürchteten Feindseligkeiten,<br />
dem „Spuk“, vernommen; weder Pfiffe noch Pfui-Rufe seien zu hören gewesen. Im<br />
Gegenteil: Die Bevölkerung habe die schmucken Heimwehrformationen mit Heil-Rufen<br />
begrüßt <strong>und</strong> bei ihrem Triumphzug durch die Stadt begeistert zugejubelt. Nach der<br />
Feldmesse <strong>und</strong> den bewegenden Ansprachen ihrer Führer habe man die Männer mit<br />
herzlichen Worten verabschiedet. Dort wo Schweigen herrschte, sei der Eindruck entstanden,<br />
so mancher Anhänger habe es nicht gewagt, seine Sympathie für die Heimwehr<br />
öffentlich zu zeigen. Aus sozialdemokratischer Perspektive hingegen war der Aufmarsch<br />
des Gegners nichts anderes als eine der Mehrheitsbevölkerung aufgezwungene Farce.<br />
Durch totenstille Gassen sei der einsame Zug der „Hahnenschwänzler“ marschiert. Der<br />
Hauptplatz habe zudem wegen der getroffenen Schutzmaßnahmen – Stacheldrahtverhaue<br />
<strong>und</strong> Maschinengewehre waren aufgestellt worden – einem düsteren Heerlager<br />
geglichen. Trotz der markigen Sprüche Steidles <strong>und</strong> Pfrimers war keine „rechte“ Stimmung<br />
aufgekommen. Nachdem der letzte Heimwehrmann pünktlich von der Bühne<br />
der sozialdemokratischen Hochburg abgetreten war, habe die Bevölkerung die Schutzbündler<br />
stürmisch begrüßt, mit Blumen beworfen <strong>und</strong> noch rasch Häuser <strong>und</strong> Straßen<br />
mit zusätzlichen Girlanden <strong>und</strong> Flaggen geschmückt. Die Menschen in Wiener Neustadt<br />
hätten den „Faschisten“ ja doch gezeigt, für welche Seite ihre Herzen schlugen. 629<br />
628 StLA ZGS (BKA) K.74/1 (Fol. 77–80); Aufmarsch des Republikanischen Schutzb<strong>und</strong>es. In: Leobener<br />
Zeitung (10.10.1928) S. 3.<br />
629 Das Ergebnis des 7. Oktober. In: Reichspost (8.10.1928) S. 1–3; Ein Triumph der Freiheit. In: Das<br />
Kleine Blatt (8.10.1928) S. 1–3.