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Marina Brandtner Diskursverweigerung und Gewalt

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Die Auslandspresse sprach von einem gerade noch durch die Person des Kanzlers<br />

Seipel verhinderten Bürgerkrieg, der von Kommunisten angezettelt worden war.<br />

Im Falle eines solchen Krieges schien sogar eine Intervention der Nachbarstaaten<br />

Österreichs möglich, um die Entstehung einer „roten Diktatur“ zu unterbinden. 95<br />

Die Zeitungen berichten von den Polizisten Schobers, die wie im Blutrausch wahllos<br />

in die Menge schossen <strong>und</strong> dabei auch Unbeteiligte töteten; andere Meldungen<br />

sprechen von misshandelten <strong>und</strong> hingemetzelten Polizisten, die mit ausgestochenen<br />

Augen in ihrem Blut lagen. Viele Menschen waren jahrelang im Zeichen des Klassenkampfes<br />

systematisch gegeneinander aufgehetzt worden: Die Arbeiterklasse gegen<br />

die faktische Herrschaft der „Besitzenden“, der Bürger <strong>und</strong> Bauern; jene wiederum<br />

gegen den Anspruch der Proletarier, die von ihnen angestrebte klassenlose, aus der<br />

Sicht der Gläubigen auch gottlose, Gesellschaftsordnung zu errichten. Am 15. Juli<br />

1927 waren die Dämme geborsten <strong>und</strong> die aufgestauten Emotionen überfluteten die<br />

Straßen von Wien. Aber die wahre Tragödie dieser Tage war die fehlende Bereitschaft<br />

der Vertreter beider „Lager“, jenseits von ideologischer Verblendung aus der<br />

Katastrophe die richtigen Lehren zu ziehen <strong>und</strong> einen modus vivendi für die Zukunft<br />

zu suchen. In diesem Sinne findet der Redakteur der „Arbeiter-Zeitung“ in seinem<br />

Nachruf für die „Gefallenen“ der Juli-Tage Worte voll Trauer <strong>und</strong> Wut, Worte, die<br />

nach Begleichung einer offenen Rechnung schreien:<br />

(…) Versöhnung? Es gibt keine Versöhnung, nichts ist uns allen in unserer Trauer<br />

um die gefallenen Brüder <strong>und</strong> Schwestern ferner als der Gedanke an Versöhnung.<br />

(…). Was wir am Grabe der Toten geloben werden, ist nicht Versöhnung,<br />

sondern leidenschaftlicher Kampf gegen die bürgerlich-kapitalistische Welt, in<br />

der man Arbeiter niederknallt wie Tiere (…). Ihr Blut wird gesühnt sein, wenn<br />

der Sozialismus siegt. 96<br />

Die Vorkommnisse in Wien sowie der von der Heimwehr erzwungene Streikabbruch<br />

fügten der Sozialdemokratie in der Steiermark, wo sich die Machtverhältnisse<br />

zugunsten des rechten politischen Spektrums verschoben, aber auch ganz allgemein,<br />

fühlbaren Schaden zu. Der rechte <strong>und</strong> linke Flügel der Partei gerieten hierbei in einen<br />

Gegensatz über die Zukunft der proletarischen Bewegung in Österreich. Der steirische<br />

Landesrat Reinhard Machold beklagte, der Verkehrsstreik in der Steiermark<br />

habe zugr<strong>und</strong>e gegangene politische Bankrotteure, alle die monarchistischen Offiziere,<br />

alle die hakenkreuzlerischen Provinzadvokaten auf den Plan gerufen <strong>und</strong> einen stillen<br />

Faschismus erzeugt, der das Land mit Heimwehrformationen durchsetzte. 97 Die<br />

Ergebnisse der Nationalratswahl 1930 schienen diesen Bef<strong>und</strong>, zumindest was das<br />

Gesamtergebnis betrifft, zu widerlegen: Die SDAPÖ errang r<strong>und</strong> 41 Prozent der<br />

Stimmen <strong>und</strong> wurde sogar mandats- <strong>und</strong> stimmenstärkste Partei, obwohl sie etwas<br />

mehr als 1 Prozent an Stimmen gegenüber 1927 verloren hatte. Auf Landesebene<br />

95 Ausländische Pressestimmen zitiert in der „Arbeiter-Zeitung“ (19.07.1927) S. 4.<br />

96 Das Vermächtnis der Toten. In: „Arbeiter-Zeitung“ (20.07.1927) S. 1.<br />

97 Hinteregger, Arbeiterbewegung, S. 53.

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