11.09.2012 Aufrufe

Marina Brandtner Diskursverweigerung und Gewalt

Marina Brandtner Diskursverweigerung und Gewalt

Marina Brandtner Diskursverweigerung und Gewalt

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

198<br />

da an diesem Sonntag auch andere Veranstaltungsorte zu überwachen waren. Auf<br />

die Frage des untersuchenden Beamten D’Elvert, warum die in Graz bereitgestellten<br />

Assistenzeinheiten nicht schon im Vorfeld angefordert worden waren, wusste<br />

Rattek keine Antwort. Er habe sich gegenüber Landeshauptmann Rintelen „weisungsgeb<strong>und</strong>en“<br />

gefühlt, dieser sei jedoch im kritischen Moment nicht erreichbar<br />

gewesen. Rintelen nahm den Bezirkshauptmann in Schutz: Rattek habe die Weisung<br />

erhalten, im Fall eines Konfliktes vermittelnd einzugreifen, was er auch versucht<br />

habe. Ihn treffe daher kein Verschulden. Überhaupt schien der Landeshauptmann<br />

die ganze Untersuchung als unerhörte Einmischung Wiens in steirische Angelegenheiten<br />

zu betrachten. D’Elvert stellte in seinem Bericht verw<strong>und</strong>ert fest, dass an<br />

Vorkehrungen für den Fall des Scheiterns der Verhandlungen offensichtlich nicht<br />

gedacht worden sei. Als sich die Kontrahenten schließlich Auge im Auge auf dem<br />

Kirchplatz gegenüberstanden <strong>und</strong> die Situation plötzlich außer Kontrolle geriet,<br />

waren die wenigen Gendarmeriebeamten, die in der Menge eingekeilt waren, dem<br />

Treiben hilflos ausgeliefert:<br />

Dass der Bezirkshauptmann eines auch sonst so bewegten Bezirkes, dem schliesslich<br />

auch die schon seit Wochen herrschende Spannung zwischen Heimwehr <strong>und</strong><br />

sozialdemokratische Partei bekannt sein <strong>und</strong> der daher immer mit unvorhergesehenen<br />

Zwischenfällen rechnen musste, an einem Tage zahlreicher Veranstaltungen<br />

seine Beamten nicht beisammen hält, sich in keiner Weise über die am<br />

kritischsten Orte herrschende Situation verlässlich informieren lässt, zeugt von<br />

einem bedeutenden Mangel an Voraussicht <strong>und</strong> von einer Sorglosigkeit, die auch<br />

die scheinbare Ruhe des Vormittags nicht rechtfertigt. 636<br />

Nach eingehenden behördlichen Zeugeneinvernahmen beider Parteien stand schließlich<br />

Aussage gegen Aussage. Es konnte nicht zweifelsfrei erwiesen werden, wer die<br />

Schießerei ausgelöst hatte. Der von einigen Heimwehrmännern schwer belastete<br />

Kapfenberger Arbeitersekretär Ludwig Tösch wurde zwar verhaftet, kam jedoch auf<br />

Gr<strong>und</strong> von Gegenaussagen seiner Parteigänger, darunter auch Wallisch, bald frei.<br />

Auf Gr<strong>und</strong> der vermuteten innen- <strong>und</strong> außenpolitischen Zusammenhänge hat<br />

die historische Forschung diesem Ereignis, das als einer der „Meilensteine“ in der<br />

Radikalisierung der Region gilt, überregionale Bedeutung beigemessen. Der blutige<br />

Zusammenstoß des 18. August 1929, der einen Toten <strong>und</strong> mehr als 90 Schwer- <strong>und</strong><br />

Leichtverletzte, darunter etwa 60 Angehörige der Heimwehr, forderte, 637 wurde<br />

einerseits als „auslösendes Moment“ einer von der Heimwehr erwünschten Verfassungsreform,<br />

andererseits als Teil eines von Rom <strong>und</strong> Budapest unterstützten<br />

Putschplanes interpretiert, in dessen Rahmen das Kabinett Streeruwitz von einer<br />

heimwehrgelenkten Regierung „ersetzt“ werden sollte. 638 Nach dem Blutbad von<br />

636 StLA ZGS (BKA) K.76/3 (Fol.458–469).<br />

637 Zahlen laut „Arbeiterwille“: Die Blutopfer. In: AW (19.8.1929) S. 3.<br />

638 Gernot D. Hasiba, Die Ereignisse von St. Lorenzen im Mürztal als auslösendes Element der Verfassungsreform<br />

von 1929 (=Kleine Arbeitsreihe zur Europäischen <strong>und</strong> vergleichenden Rechtsgeschichte<br />

11, Graz 1978); Botz, <strong>Gewalt</strong>, S. 175–179.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!