Marina Brandtner Diskursverweigerung und Gewalt
Marina Brandtner Diskursverweigerung und Gewalt
Marina Brandtner Diskursverweigerung und Gewalt
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
34<br />
der Koalition führte zu einer Spaltung der Sozialdemokraten in Anhänger <strong>und</strong> Gegner<br />
des Koalitionskurses. Das war die Ursache jener schweren innerparteilichen<br />
Auseinandersetzungen, die nach dem Justizpalastbrand im Juli 1927 <strong>und</strong> besonders<br />
ab März 1933 lähmend wirkten, als es galt, die Parteianhänger <strong>und</strong> den Schutzb<strong>und</strong><br />
gegen die Demontage der demokratischen Einrichtungen durch die Regierung<br />
Dollfuß zu mobilisieren. 58 Nach dem Bruch mit den Sozialdemokraten bildete die<br />
Christlichsoziale Partei Regierungsmehrheiten mit Hilfe der anderen bürgerlichen<br />
Parteien, lange Zeit mit den Großdeutschen, später mit dem Landb<strong>und</strong>. Als diese<br />
Mehrheit brüchig zu werden begann <strong>und</strong> das Angebot seitens der Christlichsozialen<br />
zur Zusammenarbeit von den Sozialdemokraten zurückgewiesen wurde, wandten sie<br />
sich an jene politischen Kräfte, die durch ihre antidemokratischen <strong>und</strong> staatsfeindlichen<br />
Tendenzen den weiteren Verlauf der Innenpolitik gravierend beeinflussten. 59<br />
Ein erster Blick auf die politische <strong>und</strong> wirtschaftliche Situation Österreichs nach<br />
dem Ende des Ersten Weltkrieges zeigt, dass zwei wesentliche Faktoren für seine weitere<br />
Entwicklung bestimmend waren. Erstens war das Land durch den materiellen<br />
<strong>und</strong> menschlichen Verschleiß des Krieges schwer geschädigt worden <strong>und</strong> befand sich,<br />
zumal in den südlichen Grenzregionen, in einem Zustand extremer Unsicherheit, der<br />
nicht einmal durch die definitive Festsetzung der staatlichen Grenzen im Friedensvertrag<br />
von St. Germain beseitigt werden konnte. Wie prekär die Lage an Österreichs<br />
Grenzen nach der Ratifizierung des Vertrages am 17. Oktober 1919 noch immer war,<br />
illustrieren die Vorkommnisse in Kärnten sowie die Abtretung des Burgenlandes an<br />
Österreich, die auf den erbitterten Widerstand Ungarns stieß <strong>und</strong> erst mit großer<br />
Verspätung im November 1921 erfolgte. Im Jahr 1919 wurde die Krisenstimmung<br />
im Land durch zwei kommunistische Putschversuche in Wien sowie schwere Ausschreitungen<br />
in Graz, die blutig niedergeschlagen wurden, zusätzlich angefacht. 60 Das<br />
Nachkriegselend in den Ballungszentren – Hunger, Kälte, Krankheiten wie Tuberkulose<br />
<strong>und</strong> Grippe, die erhöhte Säuglingssterblichkeit – wurde durch den Zuzug<br />
Zehntausender Flüchtlinge weiter verschärft. Zweitens hatte der Zusammenbruch der<br />
Doppelmonarchie zur Abtrennung Österreichs von seinem einstigen wirtschaftlichen<br />
Großraum geführt. Ohne auf die kontroverse Frage der wirtschaftlichen Lebensfähigkeit<br />
des Staates detailliert einzugehen, soll an dieser Stelle lediglich auf die Wirkung<br />
dieses Bruches hingewiesen werden, die viele Politiker <strong>und</strong> Wirtschaftsexperten zu<br />
meist pessimistischen Zukunftsprognosen, wenn auch aus taktischen Gründen den<br />
Siegermächten gegenüber, veranlassten. In einer neueren empirischen Studie wurde<br />
die konkrete marktwirtschaftliche Situation Österreichs in der Zwischenkriegszeit<br />
anhand einer Reihe namhafter Industrieunternehmen untersucht. Datenmaterial <strong>und</strong><br />
58 Berchtold, Parteiprogramme, S. 33–36. Maßgeblich: Anson Rabinbach, Vom Roten Wien zum<br />
Bürgerkrieg (=Sozialistische Bibliothek Abt. 1: Die Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie<br />
2, Wien 1989).<br />
59 Gr<strong>und</strong>sätzliches zum Thema Parlamentarismus bei: Dieter A. Binder, Parlamentarismus zwischen<br />
Lagerpatriotismus <strong>und</strong> Lösungskompetenz. Österreich 1920–1933. In: Ernst Bruckmüller<br />
(Hrsg.), Parlamentarismus in Österreich (=Schriften des Instituts für Österreichk<strong>und</strong>e 64, Wien<br />
2001) 130–144.<br />
60 Goldinger/Binder, Österreich, S. 31–37.