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Marina Brandtner Diskursverweigerung und Gewalt

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28<br />

durch eine ausgefeilte Lagerrhetorik, die auf emotional aufgeladenen Fahnenwörtern<br />

wie „Vaterland“, „Kampf“, „Revolution“ beruhte <strong>und</strong> den Menschen ein Set von<br />

lagerorientierten Codes bot. Liest man die politische Berichterstattung <strong>und</strong> Wahlpropaganda<br />

dieser Zeit, gewinnt man leicht den Eindruck, dass diese Fahnenwörter<br />

eine ungeheure Relevanz erlangten. Ihre politischen Botschaften dienten anscheinend<br />

nicht nur der „militärischen Abgrenzung“ von Fre<strong>und</strong> <strong>und</strong> Feind, sondern<br />

sie wurden gleichsam zu Glaubensidealen erhoben. 38 Ernst Hanisch bezeichnet die<br />

politischen Lager als „Totalentwürfe“ der Gesellschaft <strong>und</strong> des Lebens, weil sie ein<br />

für beinahe alle Bereiche des Lebens umspannendes Netzwerk boten; sie begleiteten<br />

die Menschen gewissermaßen von der Wiege bis zur Bahre. Das Lager wird als eine<br />

mehrere Parteien umfassende politische Gruppierung wie etwa konservativ-christlichsozial,<br />

sozialistisch-kommunistisch, liberal-deutschnational definiert. 39 Die politischen<br />

Lager erreichten in den 1920er <strong>und</strong> frühen 1930er Jahren ihren funktionellen<br />

Höhepunkt, denn in dieser Phase war die österreichische Gesellschaft am schärfsten<br />

fragmentiert. Als es den Nationalsozialisten gelang, ab etwa 1931/1932, massiv in die<br />

traditionellen Lager einzubrechen, kam es zu einer fortschreitenden „Erosion“ der<br />

Lager, am raschesten bei Deutschnationalen, Landbündlern <strong>und</strong> Heimatschützlern,<br />

dann bei den Christlichsozialen, schließlich auch bei den Sozialdemokraten. 40<br />

Wie konnte es zu diesem ausgeprägten „Lagerdenken“ in Österreich kommen?<br />

Folgt man dem Gr<strong>und</strong>modell des norwegischen Sozialwissenschafters Stein Rokkan,<br />

formierten sich politische Parteien entlang von vier Konfliktfurchen, die sich tief<br />

im Gesellschaftsgefüge des ausgehenden 19. Jahrh<strong>und</strong>erts eingegraben hatten. Laut<br />

diesem Modell gelangten die Konfliktfelder Besitz-Arbeit, Staat-Kirche, Stadt-Land<br />

sowie die ethnisch-linguistische Spaltung zu herausragender Bedeutung. In seiner<br />

Analyse der Parteienlandschaft in Österreich wendet Ernst Hanisch dieses Erklärungsmodell<br />

an, ortet jedoch ein weiteres Konfliktfeld entlang der Linie „Industrie-<br />

Gewerbe“.<br />

1.5.2 Das sozialistisch-kommunistische Lager<br />

Die österreichische Sozialdemokratie formierte sich hauptsächlich entlang der Konfliktlinie<br />

Besitz-Arbeit. Ihr war es gelungen, den Großteil der Arbeiterschaft zu mobilisieren<br />

<strong>und</strong> sich damit als Klassenpartei zu etablieren. Im Bestreben das von den<br />

Liberalen aufgegebene „Projekt der Demokratie“ wiederaufzunehmen, stießen die<br />

Sozialdemokraten bald auf ein weiteres Konfliktfeld vor, als sie mit der aufstrebenden<br />

Bewegung des politischen Katholizismus den Kampf aufnahmen. Dieser Kampf<br />

38 Kriechbaumer, Politische Kultur, S. 26–29.<br />

39 Hanisch, Schatten, S. 117. Der Lagerbegriff lässt aber auch andere Klassifizierungen zu: In der<br />

Wahlkampf-Berichterstattung des Jahres 1930 ist zuweilen auch vom „antimarxistischen Lager“<br />

beziehungsweise „bürgerlichen Lager“ die Rede. Im bürgerlichen, antimarxistischen Lager sammelten<br />

sich jene Kräfte des politischen Spektrums, die den „Marxismus“ <strong>und</strong> den „Klassenkampf“<br />

ablehnten: Obersteirerblatt (15.10.1930) S. 1; Obersteirerblatt (25.10.1930) S. 1.<br />

40 Ernst Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, 2. Aufl. (Wien 2001) S. 412.

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