Marina Brandtner Diskursverweigerung und Gewalt
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seien überfallen worden. Dabei sei ein Arbeiter angeschossen worden, der sich in<br />
seinem Blut gewälzt habe. 633<br />
5.1.5.8 Der „Blutsonntag“ von St. Lorenzen<br />
An jenem verhängnisvollen 18. August 1929 machte die Heimwehr ihre Drohung<br />
wahr, an der von der sozialdemokratischen Ortsgruppe St. Lorenzen geplanten Feier<br />
aus Vergeltung „teilzunehmen“. 634 Die im Vorfeld erklärte Bereitschaft der Heimwehrführer,<br />
ihre für denselben Tag behördlich bewilligte Veranstaltung andernorts<br />
zu verlegen, war nämlich vom „Arbeiterwillen“ als Rückzieher verhöhnt worden. 635<br />
Das wollte die Heimwehr nicht auf sich sitzen lassen. Am frühen Nachmittag gelangten,<br />
unbemerkt von den Sicherheitsposten, einige h<strong>und</strong>erte Heimatschützler auf<br />
Schleichwegen nach St. Lorenzen, in der angekündigten Absicht, den Sozialdemokraten<br />
<strong>und</strong> insbesondere Koloman Wallisch einen Denkzettel zu verpassen. Als Wallisch<br />
von der ursprünglich genehmigten nun von angeblich etwa 2000 Heimwehrmännern<br />
besetzten Festwiese auf den Kirchplatz auswich <strong>und</strong> seine Rede trotz behördlichen<br />
Verbotes fortsetzte, eskalierte die Situation. Plötzlich krachte ein Schuss – der Startschuss<br />
zu einer Straßenschlacht, die auf Gr<strong>und</strong> der beengten örtlichen Verhältnisse<br />
mit überwiegend schweren Verletzungen auf beiden Seiten endete.<br />
Im Rahmen einer vom Vizekanzler Schumy beauftragten Untersuchung wurden<br />
Landeshauptmann Rintelen <strong>und</strong> dem Bezirkshauptmann von Bruck an der Mur, Dr.<br />
Robert Rattek, schwere Versäumnisse vorgeworfen. Bei richtiger Einschätzung des<br />
ohnehin bekannten Konfliktpotenzials im Bezirk hätten die blutigen Ereignisse vermieden<br />
werden können, lautete die Anschuldigung. Gravierende Fehler waren nicht<br />
nur bei den Sicherheitsvorkehrungen vor Ort [Missmanagement bei der Anforderung<br />
<strong>und</strong> Zuteilung der Sicherheitskräfte, besonders im Ortskern; bei der Waffenabnahme<br />
am Bahnhof waren bloß „sichtbare“ Waffen konfisziert worden, Anm.], sondern<br />
auch auf Gr<strong>und</strong> mangelhafter Kommunikation passiert [zu späte <strong>und</strong> zögerliche<br />
Weisungen seitens des Bezirkshauptmannes an die zuständigen Vollzugsbeamten<br />
sowie Koordinationsmängel zwischen Rintelen <strong>und</strong> Rattek, Anm.]. Zum Vorwurf<br />
der ungenügenden Sicherheitsvorkehrungen für eine als höchst gefährlich eingestufte<br />
Veranstaltung entgegnete Rattek, er habe die Aufbietung eines Großteiles aus<br />
dem Bezirk verfügbarer Exekutivkräfte für St. Lorenzen als bedenklich erachtet,<br />
633 Blutiger Zusammenstoß in Kapfenberg. In: Neue Freie Presse (2.5.1929) S. 4.<br />
634 Furchtbare Bluttat in St. Lorenzen. In: AW (19.8.1929) S. 1.<br />
635 Die Heimwehr muß auf St. Lorenzen verzichten. In: AW (17.8.1929) S. 1; Die Sonntagsschlacht<br />
von St. Lorenzen im Mürztale! In: Obersteirerblatt (21.8.1929) S. 1–4: In diesem Bericht wird behauptet,<br />
der Schutzb<strong>und</strong> sei mit Pistolen bewaffnet gewesen <strong>und</strong> habe die Schießerei angefangen.<br />
Die Untersuchung habe ergeben, dass der getötete Schutzbündler von seinen eigenen Leuten aus<br />
Versehen erschossen worden sei. Als infame Lüge wurde die Behauptung der gegnerischen Presse<br />
bezeichnet, vom Kirchturm sei mit einem MG geschossen worden. Der „Arbeiterwille“ veröffentlichte<br />
im Nachhinein eine Stellungnahme des Ortspfarrers Thyr, in der er die gegen ihn erhobenen<br />
Anschuldigungen eindeutig widerlegen konnte (Eine Zuschrift des Dechanten von St. Lorenzen.<br />
In: Arbeiterwille 23.8.1929, S. 2).<br />
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