Marina Brandtner Diskursverweigerung und Gewalt
Marina Brandtner Diskursverweigerung und Gewalt
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Diese Fahne ist keine Kriegsfahne, sondern eine Friedensfahne;(…); sie ist kein<br />
Trennungszeichen, sondern eine Mahnung zur Sammlung in wohlgeordneter<br />
Einheit. (…) Freilich ist es uns Menschen, solange wir hier auf Erden pilgern,<br />
nicht gegönnt, ohne jeden Kampf zu leben. (…) Ein jeder muss das, was ihm<br />
wert <strong>und</strong> heilig ist, gegen andere verteidigen, wenn diese <strong>und</strong>uldsam sind <strong>und</strong><br />
ihn angreifen. (…) Aber nicht ein Krieg soll unter den Menschen geführt werden,<br />
der anstelle von Liebe den Haß treten ließe, sondern wir führen unseren Kampf<br />
(…) für das einzutreten, was wir zu verteidigen die Pflicht haben. (…) Die eben<br />
geweihte Fahne ist keine Kriegsfahne, aufgerichtet um andere zu reizen oder zu<br />
demütigen (…).<br />
Das Gebet, das er eben gesprochen habe, verkündete Seipel, sollte eines um den Schutz<br />
Gottes für alle jene sein, die der Fahne folgten. Aber auch für die Feinde. Ja, hoffte<br />
er, gerade ihnen möge die Gnade Gottes nie vorenthalten werden. Seipels Friedensbotschaft<br />
mag man mit gemischten Gefühlen betrachten. Wollte er dem politischen<br />
Gegner inmitten des politischen Kampfgetümmels wirklich die Hand reichen? Aus<br />
sozialdemokratischer <strong>und</strong> kommunistischer Sicht war der „Prälat ohne Milde“ spätestens<br />
seit seiner Verweigerung, Gnade bei den Sanktionen gegen die Anführer des<br />
15. Juli 1927 walten zu lassen, personifizierter Feind der Arbeiterklasse. 626 Bedenkt<br />
man, dass der B<strong>und</strong>eskanzler eine Strategie der Eroberung sozialdemokratischer<br />
Lebensbereiche mit Hilfe der Heimwehren verfolgte – gerade in Kapfenberg wollte<br />
er ein starkes Zeichen setzen – muss seine Botschaft wie Hohn in den Ohren des<br />
einfachen sozialdemokratischen Arbeiters geklungen haben. Für viele Katholiken<br />
hingegen war er Garant des Glaubens <strong>und</strong> der Stabilität, ein Bollwerk gegen die atheistische<br />
Ideologie des Marxismus. Selbst kirchenferne bürgerliche Kreise konnten einem<br />
schrankenlosen „marxistischen“ Kurs in der Bildungs- <strong>und</strong> Erziehungspolitik wenig<br />
abgewinnen. Nach außen hin schien Seipel stark, unnahbar <strong>und</strong> berechnend. Aus<br />
seinen Tagebüchern geht jedoch hervor, dass ihm der Zwiespalt zwischen Seelsorge<br />
<strong>und</strong> Politik zu schaffen machte, dass er mit sich selbst haderte <strong>und</strong> sich stets ermahnte,<br />
aus Nächstenliebe für die „Feinde“ der Kirche zu beten. Besonders litt er unter der<br />
hasserfüllten Medienkampagne, die nach dem Brand des Justizpalastes gegen seine<br />
Person einsetzte, die eine Austrittswelle aus der römisch-katholischen Kirche zur<br />
Folge hatte. Der Priester <strong>und</strong> Politiker Dr. Ignaz Seipel ist, neben Engelbert Dollfuß,<br />
eine der umstrittensten Persönlichkeiten der Ersten Republik geblieben. 627<br />
5.1.5.5 Der „Spuk“ von Wiener Neustadt<br />
Die angespannte Atmosphäre erfuhr eine weitere Verschärfung, als am 7. Oktober<br />
1928 beide bewaffnete „Lager“ unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen in Wiener<br />
626 Der Giftgasprälat verherrlicht die Heimwehrfaschisten. In: Arbeiterwille (4.9.1929) S. 1.<br />
627 Viktor Reimann, Zu groß für Österreich. Seipel <strong>und</strong> Bauer im Kampf um die Erste Republik<br />
(Wien/Frankfurt/Zürich 1968) S. 74–79; 130–135; Maximilian Liebmann, 1934: Kirche, Kultur<br />
<strong>und</strong> Arbeiterschaft. In: Hinteregger/Müller/Staudinger, Freiheit, S. 291–297.<br />
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