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Marina Brandtner Diskursverweigerung und Gewalt

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Geschäftsunterlagen zeigen überraschende Ergebnisse. Demnach sollen einige Teile<br />

der österreichischen Industrie die veränderte Lage nach dem Zusammenbruch des<br />

vormaligen Staates relativ bald verkraftet beziehungsweise „umgangen“ haben. 61<br />

Doch schon bald sollte sich der Artikel 197 des St. Germainer Vertrages, der<br />

bestimmte, dass Österreich mit seinem gesamten Besitz <strong>und</strong> allen Einnahmequellen<br />

für die Bezahlung der Reparationskosten an die Alliierten haften sollte, als größter<br />

formaler Hemmschuh für die alliierte Kreditgewährung an Österreich entpuppen.<br />

62 In der Zeit zwischen Dezember 1919 <strong>und</strong> September 1922 stieg der Index der<br />

Lebenshaltungskosten auf das 450-fache an. Damit begann die Periode der rasanten<br />

Inflation in Österreich, in der viele Menschen ihre gesamten Ersparnisse verloren,<br />

während einige Großspekulanten unerhört reich wurden. In demselben Zeitraum<br />

profitierte auch die Wirtschaft von den inflationären Verzerrungen <strong>und</strong> es herrschte<br />

bis 1922 praktisch Vollbeschäftigung. Die von B<strong>und</strong>eskanzler Seipel angestrebte <strong>und</strong><br />

am 4. Oktober 1922 vom Völkerb<strong>und</strong> übernommene Garantie 63 für eine Anleihe<br />

in der Höhe von 650 Millionen Goldkronen konnte den drohenden Staatsbankrott<br />

zwar vorerst verhindern, doch musste sich Österreich verpflichten, die Aktiva<br />

aus seinen Staatsdomänen, wie der Forstwirtschaft, den Zöllen <strong>und</strong> dem Salz- <strong>und</strong><br />

Tabakmonopol im Rahmen eines vom Völkerb<strong>und</strong> verordneten Finanzplanes zu<br />

verpfänden. 64 Mit der am 20. Dezember 1924 beschlossenen Einführung des Schillings,<br />

der im Verhältnis 1 zu 10.000 Kronen eingetauscht wurde, ging die Periode<br />

der Hyperinflation offiziell zu Ende. 65<br />

Die Politik der Währungsstabilisierung hatte jedoch eine Reihe schwerwiegender<br />

Pro bleme zur Folge: Die nächsten zehn Jahre waren von wirtschaftlicher Instabilität<br />

<strong>und</strong> handfesten Krisen gekennzeichnet. Der Schuldenstand der österreichischen<br />

Landwirtschaft, der bis 1922 weitgehend von der Inflation „getilgt“ worden war, stieg<br />

erneut an <strong>und</strong> erreichte Ende der 1920er Jahre die beachtliche Höhe von 900 Millionen<br />

Schilling. Eine neue Anleihe, das so genannte Protokoll von Lausanne, wurde zur<br />

61 Jens-Wilhelm Wessels, Economic Policy and Microeconomic Performance in Inter-War Europe.<br />

The Case of Austria, 1918–1938 (=Beiträge zur Unternehmensgeschichte 25, Stuttgart 2007),<br />

Kurzzitat: Wessels, Economic Policy, S. 24–32; es wurden u.a. die Konzerne ÖAMG, Schoeller-<br />

Bleckmann, Hutter & Schranz, Leykam-Josefsthaler, Elin, Siemens, AEG, Steyr-Daimler-Puch<br />

<strong>und</strong> Semperit für die Studie herangezogen. Siehe auch: Herbert Matis, Von der frühen Industrialisierung<br />

zum Computerzeitalter. Wirtschaftshistorische Wegmarkierungen (Wien/Köln/Weimar<br />

2006) S. 102: Das Pro-Kopf-Einkommen Österreichs im Vergleich zu seinen Nachbarn (in Kronen):<br />

Österreich = 694; Tschechoslowakei = 593; Ungarn = 450.<br />

62 Ladner, Staatskrise, S. 12–15. Der Vertrag von St. Germain-en-Laye trat am 16. Juli 1920 in Kraft.<br />

Der Wortlaut des Vertrages: http://www.versailler-vertrag.de/svsg/svsg-i.htm, 14.10.2009.<br />

63 Die drei Genfer Protokolle wurden schließlich mit den Stimmen der Christlichsozialen <strong>und</strong> den<br />

Großdeutschen (103 gegen 68 Stimmen) am 24. November 1922 genehmigt; drei Tage später wurde<br />

das Wiederaufbaugesetz im Nationalrat beschlossen, das zahlreiche rigorose Sparmaßnahmen,<br />

wie den Abbau eines Drittels der Beamtenschaft <strong>und</strong> die Einführung einer Warenumsatzsteuer,<br />

vorsah: Nationalrat.124.Sitzung v. 24. November. In: Wiener Zeitung (25.11.1922) S. 3–4; Nationalrat.150.Sitzung<br />

v. 25. November. In: Wiener Zeitung (27.11.1922) S. 1–5.<br />

64 Ladner, Staatskrise, S. 135f.; 140–142; Siehe dazu auch: Rosner, Die ewige Krise, 288–290.<br />

65 Roman Sandgruber, Ökonomie <strong>und</strong> Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter<br />

bis zur Gegenwart (=Österreichische Geschichte, Wien 1995), Kurzzitat: Sandgruber, Ökonomie<br />

<strong>und</strong> Politik, S. 354–362.<br />

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