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Marina Brandtner Diskursverweigerung und Gewalt

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26<br />

die Schwäche der Zivilgesellschaft habe dazu geführt, dass sich der Sozialstaat in<br />

Österreich früher als anderswo etabliert hat. Hanisch geht von der Annahme einer<br />

in Österreich herrschenden „Untertanenkultur“ aus, die von „zwei formativen Phasen“,<br />

dem Barock <strong>und</strong> dem Josephinismus, geprägt wurde. Er macht sich auf die<br />

Suche nach Traditionen, Merkmalen <strong>und</strong> Verhaltensweisen, die der vermeintlich<br />

österreichischen Variante der politischen Kultur ihre spezifische Ausprägung gaben<br />

<strong>und</strong> die noch im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert spürbar nachwirkten. Hanisch deutet politische<br />

Kultur als „ein Set von Orientierungen, Haltungen <strong>und</strong> Einstellungen zu den politischen<br />

Prozessen <strong>und</strong> Strukturen; dann aber auch Verhaltensmuster im Sinne einer<br />

politischen Mentalitätsforschung, die jeweils durch historische Traditionen angelernt<br />

<strong>und</strong> durch politische Symbole gestützt werden. Politische Kultur meint das politisch<br />

relevante Weltbild der ganzen Bevölkerung (nationale Kultur), von Großgruppen<br />

(Lagerkultur), von Funktionseliten (Elitenkultur)“.<br />

Ich schließe mich dieser Interpretation an, besonders im Hinblick auf die so<br />

genannte Lagerkultur, die im Umfeld der politischen Radikalisierung in der Ersten<br />

Republik eine signifikante Rolle spielte. Aber trotz der Formierung der politischen<br />

Lager <strong>und</strong> des Vorhandenseins einer „Konfliktkultur“ in der Ersten Republik ortet<br />

Hanisch noch den Gr<strong>und</strong>typus des unpolitischen, harmoniebedürftigen Österreichers,<br />

der um jeden Preis „seine Ruhe“ haben will. Der Typus des unpolitischen<br />

Österreichers habe sich auch innerhalb der politischen Lager bef<strong>und</strong>en, denn selbst<br />

am Höhepunkt der Klassengesellschaft, am Gipfel der Lagerkultur, blieb ein breites<br />

Spektrum der Bevölkerung, das nur rudimentär von der Politik berührt wurde, so<br />

Hanisch. 32<br />

1.5 Mentalitätsgeschichte: soziale Milieus<br />

<strong>und</strong> politische „Lager“<br />

In erster Linie lenkt die von Ernst Hanisch aufgegriffene mentalitätsgeschichtliche<br />

Idee der Annales-Schule 33 das Interesse auf „kollektive Weltsichten, Vorstellungen<br />

<strong>und</strong> Einstellungen zu f<strong>und</strong>amentalen Lebenssituationen, zu gesellschaftlichen Institutionen<br />

<strong>und</strong> Machtverhältnissen, um Sinnstrukturen <strong>und</strong> Rationalitäten kollektiven<br />

Verhaltens sowohl bei Ereignissen wie bei der Bewältigung lebensweltlicher Situationen<br />

zu ergründen“. Lebenswelten bedeuten den subjektiven Aspekt der Geschichte,<br />

den von bestimmten Werthaltungen geprägten konkreten Lebensvollzug, das Netzwerk<br />

der subjektiven Heimaten, seien dies die Familie, das Wohnviertel oder eine<br />

politische Partei. 34 Dieses Konzept ist in seiner historischen Perspektive deshalb<br />

so interessant, weil es den Blick auf sozialmoralische <strong>und</strong> soziokulturelle Milieus<br />

32 Hanisch, Schatten, S. 23–32.<br />

33 Die von französischen Historikern geprägte Schule vertritt eine historiografische Richtung, die<br />

sich von der Ereignisgeschichte abwendet <strong>und</strong> strukturelle <strong>und</strong> mentalitätsgeschichtliche Aspekte<br />

in den Vordergr<strong>und</strong> rückt.<br />

34 Robert Kriechbaumer, Die großen Erzählungen der Politik. Politische Kultur <strong>und</strong> Parteien in<br />

Österreich von der Jahrh<strong>und</strong>ertwende bis 1945 (=Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für poli-

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