Marina Brandtner Diskursverweigerung und Gewalt
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Juli 1927 <strong>und</strong> 18. August 1929 hatte Österreich viel an Ansehen <strong>und</strong> Kreditwürdigkeit<br />
im Ausland eingebüßt. Nun, nach dem Putschversuch, schien seine staatliche<br />
Autorität schwer in Frage gestellt, zumal das Gerichtsurteil die <strong>Gewalt</strong> gegen den<br />
Staat gleichsam legitimiert hatte. Was auf der einen Seite für einen Skandal sorgte,<br />
nämlich dass jene politischen Abenteurer, die versucht hatten, die gültige Verfassung<br />
zu beseitigen, glimpflich davonkamen <strong>und</strong> dass der Großteil ihrer Waffen in die<br />
Verstecke zurückwanderte, schien auf der anderen Seite nur recht <strong>und</strong> billig, ging<br />
es doch darum, das militärische Potenzial ihres „Lagers“ aufrechtzuerhalten. In<br />
einer dringlichen Anfrage geißelte der sozialdemokratische Nationalratsabgeordnete<br />
Eisler den Landeshauptmann Rintelen, unter dessen Patronanz der Putsch jahrelang<br />
„gezüchtet“ worden war: Der steirische Putsch war ein notwendiges Glied in einer<br />
Kette von Vorbereitungen, die unter dem Schutze der maßgebenden Funktionäre des<br />
Landes Steiermark sich vollzogen haben. 110<br />
2.5 Der „Staatsstreich auf Raten“<br />
Als am 4. März 1933 alle drei Nationalratspräsidenten nach einer erregten Debatte<br />
im Parlament zurücktraten – es ging um eine Diskrepanz bei der Abstimmung in der<br />
Frage der Behandlung eines von den Eisenbahnern durchgeführten Proteststreiks 111<br />
– kam es zu einer einmaligen Krisensituation, die in der Geschäftsordnung des<br />
Parlaments nicht vorgesehen war. Der „vorsitzlose“ Nationalrat war plötzlich handlungsunfähig<br />
geworden. Die Ereignisse überschlugen sich: Am nächsten Tag, den<br />
5. März, errangen die Nationalsozialisten r<strong>und</strong> fünf Wochen nach der Ernennung<br />
Adolf Hitlers zum Reichskanzler die relative Mehrheit bei den Reichstagswahlen<br />
in Deutschland. Es war zu erwarten, dass die österreichischen Nationalsozialisten,<br />
die seit ihren bedeutenden Wahlgewinnen 1932/1933 vehement nach Neuwahlen<br />
riefen, starken Rückenwind bekommen würden. Dollfuß stand vor der Alternative,<br />
entweder den Nationalrat vorübergehend oder dauerhaft auszuschalten, um eine<br />
Veränderung der politischen Verhältnisse im Sinne seiner Regierung irgendwie herbeizuführen,<br />
oder sich <strong>und</strong> seiner Partei der Gefahr von Neuwahlen auszusetzen,<br />
110 Sten. Prot. der 47. Sitzung des Nationalrates (1.10.1931). In: Sten. Prot. über die Sitzungen des Nationalrates<br />
(IV. Gesetzgebungsperiode) der Republik Österreich 1931 bis 1932 II. Bd. (Wien 1932)<br />
S. 1211.<br />
111 Bei diesem Streik vom 1. März 1933 handelte es sich vordergründig um eine Protestmaßnahme<br />
der Eisenbahnergewerkschaft wegen der von der Regierung, offiziell aus Geldmangel, geplanten<br />
Teilauszahlungen der Eisenbahnergehälter. Heeresminister Vaugoin (CSP) bezifferte den dadurch<br />
entstandenen Schaden auf r<strong>und</strong> drei Millionen Schilling. Der Zentralsekretär der Eisenbahnergewerkschaft,<br />
Berthold König (SDAPÖ), behauptete, die Regierung habe bewusst einen Anschlag auf<br />
die Eisenbahner vorbereitet, weil der Ausbruch des Streiks mit Waffengewalt hätte verhindert werden<br />
sollen. Leopold Kunschak (CSP), Gründer <strong>und</strong> Obmann der CS-Arbeiterbewegung, führte in<br />
seiner Rede vor dem Parlament aus, der Eisenbahnerstreik sei von der „Nationalen Gewerkschaft“,<br />
die längst eine Nazigewerkschaft geworden sei, angezettelt worden. Er vermutete, der Streik sei<br />
nicht aus wirtschaftlichen, sondern aus politischen Gründen erfolgt (Heeresminister Vaugoin<br />
über den Streik bei den B<strong>und</strong>esbahnen; Nationalrat. 125. Sitzung v. 4. März. In: Wiener Zeitung<br />
(5.3.1933) S. 3–5; Nationalrat. Wiener Zeitung (7.3.1933) S. 1–2).