Marina Brandtner Diskursverweigerung und Gewalt

adikalisierter politischer Gruppen und deren Interaktion in diesem Zeitraum sind
jedoch dünn gesät. 146 Der deutsche Historiker Dirk Schumann hat beispielsweise
den Versuch unternommen, die Wurzeln der politischen Gewalt in der Weimarer
Republik anhand der preußischen Provinz Sachsen aufzuspüren. Obgleich das Land
Sachsen in seiner damaligen Ausdehnung auf Grund der viel dichteren Besiedlung,
des höheren Urbanisierungsgrades und seiner wirtschaftlichen Entwicklung keinen
adäquaten Vergleich zu einer alpenländischen Region ermöglicht, schloss es,
ähnlich der obersteirischen Industrieregion, diverse von Industrie, Bergbau, Handel
und Landwirtschaft geprägte soziale und politische Milieus mit ein. 147 Im Mittelpunkt
einer weiteren komparativen Studie stehen die Praktiken der extremen
Linken und Rechten in Paris und Berlin zwischen 1918 und 1939. Dabei soll der auf
ähnlich gelagerte großstädtische Milieus gerichtete Fokus einen direkten Vergleich
zwischen einer totalitären Ideologie verhafteten politischen Kräften jener Nachbarländer
ermöglichen. In seiner umfangreichen Arbeit geht der deutsche Historiker
Andreas Wirsching der interessanten Frage nach, ob und inwieweit jene radikalen
Tendenzen aus den als Folge des Ersten Weltkrieges beziehungsweise der später
einsetzenden Rezession grassierenden sozioökonomischen Spannungen oder aus
dem jeweiligen kollektiven Nationalbewusstsein und Eigenart resultierten. 148 Die
von den oben genannten Autoren verwendeten Schlüsselbegriffe „Kampf um die
Straße“ und „Furcht vor dem Bürgerkrieg“ spiegeln auch die seinerzeitige Stimmung
in weiten Teilen Österreichs wider. Vor allem weisen Art und Ablauf der politischen
Zusammenstöße in Sachsen eine frappante Ähnlichkeit mit jenen in der obersteirischen
Industrieregion auf.
Der Innsbrucker Historiker Michael Gehler greift die Problematik der zeitgeschichtlichen
Historiografie in einer im Jahr 2001 herausgegebenen Publikation
auf. 149 Er geht der zentralen Frage nach, welche Rolle die Zeitgeschichte in der aktuellen
europäischen Dimension in einer Zeit der wachsenden Globalisierung nach
dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems nach 1989 spielen kann und
soll. 150 Gehler sieht die Historiografie vor neue Aufgaben und Herausforderungen
146 Zur regionalen Entwicklung der NSDAP in Österreich: Gerhard Botz, Nationalsozialismus in
Wien (Wien 2008); Gerald Wolf, Die NSDAP im Bezirk Deutschlandsberg von ihren Anfängen
bis zum gescheiterten Juliputsch 1934 (Dipl. Arb., Graz 2001); Harry Slapnicka, Hitlers Partei in
Oberösterreich (ca. 2001); Kurt Bauer, Struktur und Dynamik des illegalen Nationalsozialismus
in der obersteirischen Industrieregion 1933/1934 (Dipl. Arb., Wien 1998); Ingrid E. Thaler, Der
Nationalsozialismus in Wolfsberg (Dipl. Arb., Klagenfurt 1994).
147 Dirk Schumann, Politische Gewalt in der Weimarer Republik 1918–1933. Kampf um die Straße
und Furcht vor dem Bürgerkrieg (=Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen,
Schriftenreihe A: Darstellungen 17, Essen 2001) S. 233–269.
148 Andreas Wirsching, Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland
und Frankreich 1918–1933/1939. Berlin und Paris im Vergleich (=Quellen und Darstellungen zur
Zeitgeschichte 40, München 1999) S. 611–622.
149 Michael Gehler, Zeitgeschichte im dynamischen Mehrebenensystem. Zwischen Regionalisierung,
Nationalstaat, Europäisierung, internationaler Arena und Globalisierung (=Herausforderungen.
Historisch-politische Analysen 12, Bochum 2001) Kurzzitat: Gehler, Zeitgeschichte.
150 Siehe dazu: Klaus Koziol, Globalisierung oder die Renaissance der Region. In: Identität und politische
Kultur hg. Andreas Dornheim, Sylvia Greiffenhagen (Stuttgart 2003).
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