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Marina Brandtner Diskursverweigerung und Gewalt

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202<br />

5.2 Wer vor dem Nichts steht, hat nichts zu verlieren<br />

5.2.1 Die „Volksseuche“ Arbeitslosigkeit<br />

Als im Oktober 1929 der Börsenkrach an der Wall Street eine weltweite Rezession<br />

auslöste, verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage auch in Österreich sehr bald.<br />

Die seit den 1920er Jahren herrschende strukturelle Arbeitslosigkeit, die allein durch<br />

Sozialmaßnahmen wie die Arbeitslosenversicherung in einem erträglichen Rahmen<br />

gehalten werden konnte, begann bereits im Jahr 1930 beängstigende Ausmaße anzunehmen.<br />

Bezogen im Jahr 1929 „nur“ r<strong>und</strong> 160.000 Arbeitslose eine Unterstützung,<br />

schnellte diese Zahl innerhalb eines Jahres auf 208.000 <strong>und</strong> erreichte 1931 eine Höhe<br />

von über 250.000. Die Gesamtzahl von Beschäftigungslosen, das heißt jenen von<br />

der Versicherung noch nicht erfassten Jugendlichen sowie Langzeitarbeitslosen, so<br />

genannten Ausgesteuerten, die von einer kleinen Beihilfe lebten, war ungleich höher<br />

<strong>und</strong> erreichte laut Stiefel im Jahr 1933 die 550.000-Marke bei r<strong>und</strong> 328.000 Unterstützten.<br />

Dieses Elend wies naturgemäß Schwerpunkte in den industriellen Zentren<br />

<strong>und</strong> Regionen Österreichs, vor allem in Wien, Oberösterreich <strong>und</strong> der Obersteiermark,<br />

auf. Die Statistiken zeigen eine enorme Kopflastigkeit der B<strong>und</strong>eshauptstadt,<br />

wo insgesamt r<strong>und</strong> 40 Prozent der Unterstützten gemeldet waren. Strukturell<br />

bedingte Unterschiede lassen sich an der für Österreich spezifischen berufsmäßigen<br />

Verteilung der Arbeitslosen ablesen: Demnach wiesen das Baugewerbe, die Eisen-<br />

<strong>und</strong> Metallindustrie, die Holzindustrie sowie das Textilgewerbe am meisten Arbeitslose<br />

auf. Den größten Teil der Arbeitslosen machten wiederum die Hilfsarbeiter aus,<br />

hauptsächlich jene, die in den eben genannten Branchen gearbeitet hatten. 648<br />

Als die Hyperinflation durch die Stabilisierung der Währung Ende 1922 gestoppt<br />

werden konnte <strong>und</strong> das Exportgeschäft der großen Konzerne wegen der gestiegenen<br />

Preise ins Stocken geriet, begann die Wirtschaft in der Steiermark ebenfalls zu kränkeln.<br />

Die Arbeitslosenzahlen der mittleren Zwanzigerjahre fluktuierten zwischen<br />

einem Niedrigststand von etwa 18.000 Ende 1925 <strong>und</strong> einem Höchststand von r<strong>und</strong><br />

25.500 Anfang 1927. In der Zeit vor der Wirtschaftskrise schnitt das Jahr 1928 relativ<br />

am günstigsten ab mit knapp unter 17.000 unterstützten Arbeitslosen. Gemessen an<br />

der Zahl der Wohnbevölkerung der Steiermark, die 1934 etwas mehr als eine Million<br />

Personen zählte, erscheinen diese Ziffern wenig dramatisch. Sie widerspiegeln jedoch<br />

kaum das wahre Ausmaß der Not. Rechnet man die Angehörigen jener arbeitslosen<br />

Männer <strong>und</strong> Frauen, die Familienerhalter waren, hinzu, kann die Zahl der an<br />

Hunger, Kälte <strong>und</strong> Mangelerscheinungen Leidenden um ein vielfaches nach oben<br />

korrigiert werden. Bereits im Jahr 1930 war der Jahresdurchschnitt an unterstützten<br />

Arbeitslosen auf etwa 24.600, 1931 sogar auf 32.600 angewachsen. Bei weitem<br />

übertroffen wurden diese Zahlen im März 1933, als sich mehr als 60.000 steirische<br />

648 Dieter Stiefel, Arbeitslosigkeit. Soziale, politische <strong>und</strong> wirtschaftliche Auswirkungen – am Beispiel<br />

Österreichs 1918–1938 (=Schriften zur Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialgeschichte 31, Berlin 1979),<br />

Kurzzitat: Stiefel, Arbeitslosigkeit, S. 25–29.

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