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Marina Brandtner Diskursverweigerung und Gewalt

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30<br />

1891 erschienenen päpstlichen Enzyklika „Rerum novarum“, wurden jene Arbeiter<br />

<strong>und</strong> Arbeiterinnen in die Bewegung integriert, die vom Klassenbildungsprozess noch<br />

wenig berührt waren <strong>und</strong> religiös an die katholische Kirche geb<strong>und</strong>en blieben. Die<br />

Partei wurde aber auch vom Spannungsfeld Stadt-Land stark geprägt, als sich die<br />

Bauern unter der Führung des niederen Klerus von der Bevorm<strong>und</strong>ung durch die<br />

großagrarisch-aristokratische Führung zu lösen begannen, die sich hauptsächlich in<br />

<strong>und</strong> um Wien beziehungsweise im angrenzenden Niederösterreich gruppierte. 43 Die<br />

Christlichsozialen ergriffen die Gelegenheit, ein Netzwerk von bäuerlichen Organisationen<br />

<strong>und</strong> Interessensvertretungen aufzubauen, die ihnen bis 1907 enorme Popularität<br />

<strong>und</strong> Schlagkraft auf dem Land verleihen sollte. Nach der Wahlniederlage der<br />

rivalisierenden Konservativen 1907 vereinigten sich diese mit den Christlichsozialen,<br />

außer in Tirol, zur Christlichsozialen Reichspartei. Die christlichsoziale Bewegung<br />

verlor dadurch ihre ursprüngliche sozialpolitische Dynamik <strong>und</strong> entwickelte sich zu<br />

einer konservativen Partei, einer „Partei der Reichen“, der die Arbeiterschaft zusehends<br />

aus dem Blickfeld schwand. 44 Als der charismatische Führer der Partei <strong>und</strong><br />

Bürgermeister von Wien, Karl Lueger, 1910 starb <strong>und</strong> die Partei im Jahr darauf eine<br />

empfindliche Wahlniederlage erlitt, stürzte sie in eine schwere Krise. Es kam zu einer<br />

Schwerpunktverlagerung der Partei von der Stadt auf das Land, wo sie auch nach 1918<br />

die meisten Wähler <strong>und</strong> Wählerinnen rekrutierte. Das Wien Luegers wurde nach<br />

dessen Tod zu einer Hochburg der Sozialdemokratie, <strong>und</strong> nach der Ausrufung der<br />

Republik zu einem Zentrum der sozialdemokratischen Gegenkultur. Diese Kultur<br />

sollte den Typus des aufgeklärten „modernen“ Menschen hervorbringen, ihn vom<br />

Ballast jener traditionellen fortschrittsfeindlichen Strukturen, Institutionen <strong>und</strong><br />

Denkweisen befreien. 45<br />

1.5.4 Das national-freiheitliche Lager<br />

Der Werdegang des national-liberalen Lagers kann als ein Erosionsprozess altliberaler,<br />

rationaler Überzeugungen zugunsten eines zunehmend scharf deutschnationalen,<br />

antiklerikalen <strong>und</strong> antisemitischen Kurses charakterisiert werden. Wie die<br />

beiden anderen politischen „Lager“, setzte sich das liberal-nationale Lager anfänglich<br />

mit den durch den Liberalismus hervorgerufenen politischen <strong>und</strong> gesellschaftlichen<br />

Folgen auseinander. Mit dem Ausscheiden Österreichs aus dem Deutschen B<strong>und</strong><br />

nach der verlorenen Schlacht bei Königgrätz (Hradce Králové) 1866 <strong>und</strong> der Realisierung<br />

der so genannten kleindeutschen Lösung wurden die Hoffnungen auf eine<br />

Wiederherstellung des Alten Reiches jäh zerstört. Allmählich bildeten sich zwei<br />

Hauptströmungen im liberal-nationalen Lager aus. Die zunächst im Vordergr<strong>und</strong><br />

stehende Zielvorstellung eines Zusammenschlusses mit dem Deutschen Reich wurde<br />

um 1870 fallengelassen, jedoch ab 1873 von Georg von Schönerer erneut aufgegriffen<br />

43 Hanisch, Schatten, S. 118f.<br />

44 Hermann J.W. Kuprian, An der Schwelle zum 20. Jahrh<strong>und</strong>ert – Staat <strong>und</strong> Gesellschaft vor dem<br />

ersten Weltkrieg. In: Steininger/Gehler, Österreich im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert Bd.1, S. 30–31.<br />

45 Kriechbaumer, Politische Kultur 90–97.

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