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Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler

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Vogelfreiheit - Stephan Packard<br />

„An die hohen Herren des Hohen Triumvirats von <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>:<br />

Liebe Hohe Herren,<br />

ich habe ein großes Problem. Ich lebe draußen vor der Stadt und bin Bauer und zahle meine Steuern<br />

als Korn. Es sind viele Steuern, und die Ernte ist diesmal nicht gut...“<br />

Schnell wanderte die goldene Federspitze hin und her und schrieb den Brief ein zweites Mal zu<br />

Ende. Als sie wieder ruhig neben dem Stapel lag, nahm Manyr das oberste Blatt heraus und schloß<br />

die Schublade wieder.<br />

���<br />

Im Herbst kommt es an der Ostküste Nontariells häufiger zu schweren Stürmen. Die Fischer von<br />

Jargas fahren in dieser Zeit nicht allzu weit aufs Meer hinaus, sondern beobachten lieber die Küste<br />

und hoffen, daß die Wellen ihnen ein neues Zeichen Rautos bringen. Im Talu läßt die Strömung<br />

treibendem Gut kaum eine andere Wahl, als am Kontinent angespült zu werden, ganz gleich, ob es<br />

sich nun um eine göttliche Botschaft oder um die Überreste einer Havarie handeln mag.<br />

Die Fischer sagen: Wenn sich die heiligen Krähen hoch über der Brandung sammeln und ihr lautes<br />

Geschrei hören lassen, feiern sie die Schönheit von Regthil und preisen die Klugheit Rautos.<br />

���<br />

In <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> haben die Menschen meist andere Probleme als das Geschrei der Krähen, und<br />

wenn sie doch einmal darauf achten, verwünschen sie ihr entnervendes Kreischen.<br />

Als die Sonne schon ein gutes Stück höher stand und den Frost des Morgens vertrieben hatte,<br />

mischten sich zwischen das Krächzen der Vögel und das andere geschäftige Treiben in der Unterstadt<br />

die Schläge eines Hammers, der in einem kleinen Haushof nahe der Spalte auf ein weiches Stück<br />

unreinen Eisens einschlug, in der vagen Hoffnung, daraus möge eine Klinge werden.<br />

Lyr konnte die kalte Jahreszeit nicht leiden. Sie war heute morgen aufgewacht und hatte gefroren.<br />

Die Arbeit ging ihr schwer vonstatten, ihre Arme waren müde und verkrampft. Eigentlich hatte sie<br />

vorgehabt, heute an der Hundefamilie weiterzuarbeiten, die unfertig in einer Ecke am Zaun stand.<br />

Es war ihr erster Versuch in eigentlicher Bildhauerei, und dafür, fand sie, sah es eigentlich recht gut<br />

aus. An einer Stelle war der Stein leider gesplittert, aber sie würde einfach eines der Welpen<br />

opfern und die linke Hinterpfote der Mutter etwas anwinkeln, dann wäre der Schaden<br />

abgefangen.<br />

Aber bei diesem unfreundlichen Wetter war sie nicht in der Stimmung für ihr Hobby. Also hatte<br />

sie sich statt dessen an das Schwert gemacht, das schon vor mehr als einem Viertel bestellt worden<br />

war. Schwerter lagen ihr nicht besonders.<br />

Ihr eigenes Schwert hatte sie bei Toshi im Süden der Stadt gekauft; wenn wirklich einmal ihr<br />

Leben davon abhängen sollte - eine Situation, die ihr bislang zum Glück erspart geblieben war -<br />

wollte sie die beste Qualität, die sie sich nur irgendwie leisten konnte.<br />

Wenn sie mit der Klinge fertig war, würde es zwar kein besonders gutes Schwert geben; aber<br />

die Silbersonnen, in die es sich verwandeln ließ, waren um so hochwertiger.<br />

���<br />

Die einzelne Krähe starrte noch immer durch das selbe Fenster. Auf Manyrs Schreibtisch lagen jetzt<br />

viele Dutzend Seiten Papier verstreut. Er schrieb Zusammenfassungen und ordnete die Flut aus<br />

Informationen. Hier fanden sich neben den Schwierigkeiten verarmter Bauersfamilien auch<br />

Rechnungen und Quittungen, offizielle Mitteilungen, Anzeigen, Gesuche nach Söldnern und ganz<br />

selten einmal sogar persönliche Briefe an die Lieben und Verwandten in fernen Städten, die,<br />

falls sich überhaupt ein Reisender finden ließ, der die Nachricht mitnahm und ablieferte, erst<br />

einmal zu ihrem eigenen Schreiber laufen mußten, damit er ihnen die Neuigkeiten vorlas.<br />

Unzählige Kopien von dringenden Bitten, überraschenden Absagen, kühlen Drohbriefen und<br />

freundlichen Einladungen hatte der Schreiber im letzten Jahr gesammelt. Was jetzt vor ihm lag,<br />

war ein Abbild fast aller Vorgänge im Rattenloch während der letzten neun Monate.

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