Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler
Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler
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Eine Art von Nacht - Jeanette Kaz<br />
Tisch lag und fuchtelte damit vor Harls Nase herum. Der Wirt zuckte zurück, denn er hatte gerade mit<br />
eigenen Augen gesehen, daß diese kleine, seltsam geformte Klinge durch Haut und Fleisch schnitt, als<br />
wäre es Butter. „Du!“, fauchte Airan, „großer Klumpen wabbeligen Fleisches! Glaubst Du, ich weiß<br />
nicht, daß der Mann nur deshalb noch am Leben ist, weil Du Angst hattest, sein Fieber rühre von<br />
einer Krankheit her, mit der er Dich angesteckt haben könnte? Nett von Dir, daß ich ihn in Deiner<br />
Schmuddelkaschemme aufschneiden durfte!“ Ein paar Sekunden lang sah Harl nur eine silberne Spur<br />
in der Luft, so schnell bewegte sie das Messer. Er rührte sich nicht, denn nach allem, was er gesehen<br />
hatte, war klar, daß sie ihn nicht aus Ungeschicklichkeit verfehlte. Genauso plötzlich, wie sie<br />
aufgebraust war, beruhigte sie sich auch wieder. Seufzend warf sie das Messer in die Waschschüssel.<br />
„Was ist los?“ Rain steckte den Kopf durch die Dachluke, die in das neue Archiv führte. „Ich brauche<br />
eines unserer Zimmer.“ antwortete Airan und weiter, zu Harls Knechten: „Süßes Hale! Wenn Ihr das<br />
Brett weiter so hin- und herschaukelt, brauche ich nicht darauf zu warten, daß er an einer Entzündung<br />
stirbt, dann wird er jetzt und hier an seiner Kotze ersticken! Seid vorsichtig, verflucht nochmal.“<br />
„Airan!“<br />
„Ach, sei still, Du bücherlesende Betschwester. Was wir hier haben ist ein echter, atmender,<br />
totkranker Mann. Das ist ein bißchen anders als Deine staubigen Papiere!“ Sie wandte sich wieder den<br />
Trägern zu: „Hier hinein … Nein, lauft nicht so schnell weg, Ihr müßt mir noch helfen, ihn auf's Bett<br />
zu packen … VORSICHTIG habe ich ich gesagt!“<br />
Kopfschüttelnd hörte Rain die Chirurgin im zweiten Stock weiter zetern und rumoren. Aber sie zog<br />
trotzdem eine ganz bestimmte Kassette mit kleinen Wachstafeln hervor, die erste, die sie hier in <strong>Elek</strong>-<br />
<strong>Mantow</strong> angelegt hatte. Auf den Täfelchen standen die Namen, Tätigkeiten und Aufenthaltsorte von<br />
Personen, die für das Haus der kleinen Schwestern vielleicht wichtig werden konnten. Und eine davon<br />
war der von Sarjana, der Gattin des Hauptmanns der Stadtwache. Rain hatte die Personen, die auf der<br />
kleinen Tafel genannt wurden, hauptsächlich danach ausgesucht, wieviele übereinstimmende<br />
Gerüchte sie über sie hörte - und die über Sarjana waren besonders interessant gewesen. Falls Airans<br />
Künste bei ihrem neuesten Patienten versagen würden, war es vielleicht gut, eine Frau hinzuzuziehen,<br />
deren Begabung die rein handwerklichen Künste der Chirurgin überstieg. Die Bibliothekarin seufzte.<br />
So, wie sie Airan kannte, müßte der Mann an der Schwelle des Todes stehen, ehe sie es zuließ daß<br />
eine eingetragene Heilerin Hand an ihn legte. Sie hatte eine ausgesprochene Abneigung gegen „diesen<br />
Hokuspokus“, wie sie das nannte. Rain runzelte die Stirn. Es wäre vielleicht interessant, in Airans<br />
Papieren nachzulesen, ob es für ihre Sturheit in dieser Beziehung irgendeinen handfesten Grund gab.<br />
Ein Luftzug aus der Dachluke weckte sie aus ihren Gedanken. Sie sah hinaus. Vereinzelt sah man<br />
bereits Fackeln oder Laternen über die Schlucht blinken. Es wurde Nacht über <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> - und die<br />
Mutter Oberin war noch nicht zurück.<br />
Viril zog ärgerlich ihren Mantel enger zusammen und blinzelte verwirrt, als sie die Feste des<br />
Magistrats verließ. Die Dämmerung war hereingebrochen. Sie schnaubte ärgerlich und zählte<br />
innerlich die siebzehn goldenen Regeln der kleinen Schwestern auf, damit sie sich nicht auf dem<br />
Absatz umdrehte und den kleinen Blutsauger von einem Schreiber oder was er auch sein mochte an<br />
den Ohren hinter seinem Schreibpult hervorzerrte. Da hatte sie nun den ganzen Tag in diesem<br />
entsetzlichen Gebäude verbracht, nur um die beiden begrenzten Passierscheine für die beiden<br />
Mädchen zu bekommen - von dem Beutel mit Silbersonnen, den der Schreiber mit ausdruckslosem<br />
Gesicht in den Tiefen seiner Kleidung verschwinden ließ, gar nicht zu reden. Sie blinzelte wieder. Die<br />
Nacht sank hier schnell. Schon konnte sie die Häuser auf der anderen Straßenseite nur noch als<br />
undeutliche Schatten ausmachen. Und natürlich hatte sie keine Laterne mitgebracht! Süßes Hale! Viril<br />
straffte die Schultern. Dann mußte es eben gehen, wie es ging: immer an der Wand lang. Es konnte ja<br />
nicht so schwer sein, die Brücke zu finden - alle Wege führten früher oder später dorthin.<br />
Tatsächlich jedoch ging Viril einige Male in die Irre, ehe sie endlich den Übergang über die Schlucht<br />
fand. Als sie den Wachen ihren Passierschein zeigte, sah sie den grauhaarigen Offizier, der sie damals<br />
in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> begrüßt hatte, aus dem Wachhaus treten. „Hauptmann!“ Der Mann zögerte einen<br />
Augenblick und reichte ihr dann die Hand. „Dame. Ihr seid spät unterwegs.“ „Mutter Oberin,<br />
Hauptmann, bitte. Und ja, es ist später, als ich erwartet hatte - aber ich denke, Ihr wißt selbst wie<br />
langwierig Angelegenheiten sich in der Triumviratsfeste gestalten können.“