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Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler

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Vogelfreiheit - Stephan Packard<br />

„Aber der Preis bleibt doch derselbe, nicht wahr?“ fragte sie.<br />

„Wie? Warum denn nicht?“<br />

„Weil die Arbeit so außerordentlich gut gelungen ist, meine ich. Aber die Abmachung von vorhin<br />

gilt doch noch, oder?“<br />

Beinahe hätte Lyr laut aufgelacht. Wie konnte die Vettel Händlerin sein und so wenig Ahnung<br />

von Geschäften haben? In <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> hätte nicht einmal der unerfahrenste Marktschreier auch nur<br />

im Traum daran gedacht, freiwillig einen anderen, ungünstigeren Preis vorzuschlagen. Aber sie<br />

durfte nicht lachen; vielleicht konnte sie ja tatsächlich noch eine weitere Eisensonne<br />

herausschlagen.<br />

In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Manyr kam herein.<br />

Als er sah, daß schon eine andere Kundin da war, zuckte der Alte merklich zusammen und beschloß<br />

offenbar, sofort wieder umzukehren.<br />

„Wartet einen Augenblick, alter Mann!“ rief Lyr. „Ich bin mit Eurer Arbeit bereits fertig; sie steht<br />

im anderen Raum vor dem Fenster. Geht doch schon einmal hinüber -“ sie stockte kurz,<br />

überzeugte sich dann aber selbst davon, daß der Greis ihr nichts anhaben konnte, auch wenn sie ihn<br />

allein ließ - „und schaut Euch die Ware an.“<br />

Manyr zögerte, dann nickte er knapp und ging mit ein paar eiligen Schritten bis zur Tür, durch<br />

die er verschwand. Nachdem sie sich hinter ihm geschlossen hatte, sagte Lyr:<br />

„Ihr habt natürlich schon recht, Herrin: Die Arbeit ist mir exzellent gelungen.“<br />

„Das dachte ich mir.“ Die Frau seufzte. „Ich werde also nicht darum herumkommen, Euch einen<br />

Bonus zu entrichten, wie?“<br />

„Es ist die übliche Geschäftspraxis,“ log Lyr und hob die Schultern. „Aber da Ihr das nicht<br />

wußtet, werde ich mich mit einer einzigen zusätzlichen Eisensonne begnügen.“<br />

„Eine ganze Eisensonne?“<br />

Manyr kam zurück, die etwa anderthalb Pfeillängen große Holzstatuette unter den Arm<br />

geklemmt. Mit wenigen Schritten hastete er bis zu dem wackligen Tisch in der Ecke, legte dort<br />

sechs Eisensonnen ab. Er wollte schon gehen, dann drehte er sich noch mal um, gab Lyr mit<br />

komplizierten Handzeichen hinter dem Rücken der Kundin zu verstehen, daß er die Holzkrähe jetzt<br />

mitnahm und daß das da drüben das Geld war und wieviel und warum, und daß er jetzt ging.<br />

Lyr nickt ihm mehrmals zu und wandte sich dann wieder an die Händlerin, die mittlerweile mit<br />

sich selbst darum rang, ob sie nicht noch eine vierte Eisensonne in die tüchtigen Hände der<br />

Schmiedin wandern lassen sollte.<br />

Der Morgen ließ sich für Lyr gut an.<br />

���<br />

Vollkommen schwarz war der Falke, und überdurchschnittlich groß. Schnell hatte er alle Krähen<br />

vor Lyrs Fenster vertrieben, und nun saß er auf dem Fensterbrett und fixierte das kleine<br />

metallene Objekt auf dem Tischchen wie eine Maus, die er bei seinem Flug über weites<br />

Gelände ganz unten zwischen zwei Grasbüscheln entdeckt hatte.<br />

Seine Augen blitzten gelb auf. Noch immer waren sie starr auf den kleinen Gegenstand gerichtet.<br />

Sein Schnabel öffnete sich einen Spalt weit, seine Flügel zitterten vor Anspannung. Dann begann das<br />

Objekt im Innern des Hauses zu vibrieren, rührte sich, und stieg plötzlich einige Daumen hoch in<br />

die Luft. Dort verharrte es kurz, und der Falke krächzte leise.<br />

Schließlich schwebte das geschmiedete Stück Metall leise auf das vergitterte Fenster zu, drang<br />

durch die engen eisernen Maschen, und fiel schließlich auf das Fensterbrett herunter, wo der<br />

große Raubvogel schnell zuschnappte und es aufhob. Mit wenigen Flügelschlägen löste er sich vom<br />

Fensterbrett und flog davon.<br />

Kaum, daß er verschwunden war, öffnete Lyr, die ihrer Kundin tatsächlich volle vier Eisensonnen<br />

abgenommen hatte, die Tür. Sie holte einen Beutel aus dem Innern ihres Gewandes und ließ der<br />

Händlerin und Manyrs gutes Geld hineingleiten. Dann verschnürte sie die Börse wieder und verbarg<br />

sie in ihrem Wams. Seltsame Leute waren heute unter ihren Kunden. Was wollte der Alte nur mit<br />

einer hölzernen Krähe anfangen? Ihr Blick fiel auf den Tisch.<br />

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