Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler

Eine Art von Nacht - Jeanette Kaz
schüttelte sich, konnte aber nicht verhindern, daß sie vor ihrem inneren Auge immer wieder von
neuem sah, wie die Chirurgin ein Röhrchen nahm, es in die Wunde schob, dorthin, wohin sie weder
mit dem Löffel noch mit dem alkoholgetränkten Leinenstück gelangen konnte, und vorsichtig zu
saugen begann. Es hatte Rain all ihre Kraft gekostet, in diesem Augenblick nicht die Wundhaken
fahren zu lassen und sich zu übergeben.
Viril seufzte. „Geh' ins Bett, Rain.“
„Ja. Das sollte ich wohl.“ Eine Weile schwiegen die beiden Frauen.
„Wo ist sie?“ fragte Viril schließlich. Rain fuhr sich über die Stirn. „Ich weiß nicht.“
„Das ist nicht gut,“ murmelte Viril vor sich hin, „gar nicht gut.“
Airan stand dicht am Rand der Schlucht und sah hinuntern. Wie immer, wenn sich eine solche Tiefe
vor ihr auftat, fühlte sie ein saugendes, wirbelndes Gefühl, daß von ihrem Sonnengeflecht einen
Strang dort hinabwob, an dem es sich wunderbar hinabgleiten lassen müßte. Der Wind kühlte ihren
feuchtgeschwitzten Nacken. Einen Augenblick schwankte sie am Rande der bodenlossen Schlucht, die
sich in scharfzähnigen Abbrüchen vor ihr auftat. Langsam, ganz langsam, ließ sie sich zurückfallen
und setzte sich.
Sie legte den Kopf in den Nacken, kniff die Augen zusammen und sah zu einrt Fackel auf der anderen
Seite der Schlucht hinüber. Sie streckte den rechten Arm aus und formte aus Zeigefinger und Daumen
einen Kreis, sah hindurch auf das Licht der Fackel. „Wenn ich auf Rain gehört hätte, Himmel, wenn
ich auf sie gehört und nach der Frau des Hauptmanns gesucht hätte … Wenn ich sie also gesucht
hätte, Licht, wenn ich sie gesucht und gefunden hätte im Entsetzen dieser unirdischen Nacht, Flamme,
wäre er dann am Leben geblieben?