Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler
Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler
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Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />
dasselbe. War sie wirklich eine so beeindruckende Frau, etwas ganz Besonderes, wie Vater sie<br />
beschreibt, oder ist sein Blick nur von seiner Liebe getrübt, die auch nach über zwei Jahrzehnten nicht<br />
erloschen ist? Es ist müßig, über vergangene Dinge nachzusinnen, sich auszumalen, was gewesen<br />
wäre, wenn. Ich lebe im Hier und Jetzt.<br />
Das alte Haus hat nichts von seiner mystischen Aura verloren, und doch merke ich, daß es bereits<br />
jetzt, nach nur vier Tagen, für mich alltäglich geworden ist. So früh schon. Ich empfinde diese<br />
Erkenntnis als erschreckend, obwohl ich natürlich weiß, daß es lächerlich ist, sich über so etwas<br />
Gedanken zu machen. Ich bin eben einfach kein Kind mehr. Nur Kinder können im Zauber leben, für<br />
Erwachsene ist der Traum längst ausgeträumt. Der Alltag hat mich eingeholt.<br />
Aber was beklage ich mich? Endlich bin ich wirklich selbstständig, weder abhämgig von meinem<br />
Vater, noch von Mistress Ophelia, meiner Lehrerin und mütterlichen Freundin. Ich arbeite gerne als<br />
Erzieherin im Prinz-Schukan-Internat für höhere Töchter, dennoch bin ich froh, ausgezogen zu sein<br />
und mir eine eigene Bleibe gesucht zu haben. Ophelia ist sehr fürsorglich und aufmerksam. Sehr<br />
fürsorglich- Wie soll ich junge Mädchen erziehen, wenn ich selbst noch behandelt werde wie eine<br />
Schülerin? Eine Meisterschülerin, zugegeben. Genau das war ich ja auch, und deshalb bot mir<br />
Mistress Ophelia an, zu unterrichten, aber es wird Zeit, daß ich endlich auf eigenen Füßen stehe!<br />
Immerhin bin ich 27... Ob ich zur alten Jungfer werde? Ja, und genau das möchte ich auch. Wenn ich<br />
mir die Männer anschaue, die hier in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> herumlaufen, diejenigen, die sich für mich<br />
interessiert haben... aber ich werde sie schon auf Abstand halten. Das bringe ich auch meinen<br />
Schülerinnen bei: Männer sind ein notwendiges Übel, aber laßt sie niemals die Herrschaft über euer<br />
Herz erringen. Dann seid ihr ihnen hilflos ausgeliefert, während sie nur mit euch spielen, euch<br />
entmündigen, euch befehlen und doch in Wahrheit nur an eurem Körper interessiert sind.<br />
18.Verle<br />
Mittlerweile habe ich mich mit zwei jungen Frauen angefreundet, die einen Stock über mir wohnen.<br />
Shivistri Srimavo ist eine kleingewachsene zierliche Person mit dunkler Haut und intensiven<br />
schwarzen Augen, die aus dem fernen Süden stammt, aus einem Land, das auf keiner in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong><br />
erhältlichen Karte verzeichnet ist. Auf die Frage, was sie gerade in diese Stadt verschlagen hat, lächelt<br />
sie ein unergründliches Lächeln und schweigt. Ansonsten jedoch ist sie sehr höflich und<br />
zuvorkommend, und als Taomonoi habe ich sehrwohl Verständnis dafür, daß sie ihre<br />
Lebensgeschichte nicht gleich jeder Fremden erzählen möchte. Ich sitze abends öfter bei ihr auf<br />
dicken gewebten Teppichen und bestickten Seidenkissen in bunten Farben und trinke gemeinsam mit<br />
ihr grünen Tee, den sie vorzüglich zuzubereiten weiß. Sie ist hier als Schneiderin tätig, und ihre<br />
Kleider sind wirklich exquisit. Shivistri hat mir angeboten, eines für mich zu entwerfen, was ich<br />
dankbar annahm.<br />
Ihre Mitbewohnerin Eolyn Abdéru, eine blasse, aber lebenslustige junge Frau mit bernsteinfarbenem<br />
Haar und hellen strahlenden Augen, verfügt über heilende Hände. Diese Gabe ist höchst selten und<br />
verlangt dem, der sie besitzt, alles ab. Eolyn vermag selbst schwerste Wunden und tödliche Krankheit<br />
zu heilen, doch gefährdet sie damit ihr eigenes Leben. Nachdem sie einem Kranken die Hand<br />
aufgelegt hat, so berichtete mir Shivistri, schläft sie oft für Tage in tiefer Besinnungslosigkeit.<br />
Gerade erst gestern erlebte ich, daß sie sehr geschwächt, ihre Hände zitternd und alle Farbe aus dem<br />
ohnehin bleichen Gesicht gewichen, ins Zimmer kam, wo ich mit Shivistri saß, Tee trank und<br />
plauderte. Shivistri sprang sofort auf und nahm sie in die Arme, bettete sie sanft auf die weichen<br />
Kissen. Sie ist seitdem nicht wieder erwacht.<br />
25. Verle<br />
Die gemeinsamen Abendessen sind stets ein sehr angenehmer Abschluß des Tages, und nicht nur<br />
wegen der hervorragenden Kochkünste der Hauswirtin. Ich stehe mit den meisten Gästen der Pension<br />
„Lindenblatt“ auf sehr gutem Fuße, die Atmosphäre des abendlichen Beisammenseins ist gelöst und<br />
heiter. Dimitri ist ein wenig undurchsichtig und redet nicht gerne davon, womit er sein Geld verdient,<br />
bisweilen habe ich ihn auch bei offenen Lügen ertappt, so behauptete er einmal, er wäre Dichter und<br />
würde damit seinen Lebensunterhalt finanzieren, doch als ich ihn darauf ansprach, er möge mir doch<br />
einmal einen seiner Poesiebände ausleihen, da ich mich sehr für Gedichte interessiere, schien er<br />
verlegen und brachte mir schließlich ein paar lose, mit fahriger Handschrift verfaßte und vielfach<br />
korrigierte Blätter. Es sieht nicht so aus, als hätte er bislang auch nur ein einziges seiner Gedichte<br />
veröffentlicht, allerdings muß ich eingestehen, daß er sehr begabt ist, was ich ihm auch gesagt habe.