Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler
Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler
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Ein Eimer Bier und andere Verrücktheiten - Dietmar Cremers<br />
Den. Die Frau blickte ihn so erstaunt an, als ob er gerade behauptet hätte, <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> sei im Meer<br />
versunken. Dann redete sie mit beschwichtigenden Gesten auf Den ein. Wie ein Heiler, der es mit<br />
einem tollgewordenen Patienten zu tun hat, kurz bevor er die Zwangsjacke hervorholt: „Ruuuhig.<br />
Gaaanz ruhig. Er ist krank. Seeehr krank.“ Jetzt war Den an der Reihe, erstaunt zu sein. „Aber du ...<br />
ich ... ich habe dich befreit. Man hat dir wehgetan. Hab’ dir geholfen.“ Die Alte blickte immer noch<br />
überrascht, hielt Den aber wohl allmählich für etwas harmloser. Sie schob ihr Kinn vor, kratzte sich<br />
am Kopf und grübelte ein wenig nach. „Befreit, sagt er? Warum? Geschlafen hat sie nur, nur<br />
geschlafen. Was kann er meinen?“ Den warf einen überdeutlichen Blick auf die Stricke, die wie<br />
bösartige Schlangen auf dem Boden lagen. „Und das da?“ Die Frau schaute kurz hin und dann<br />
schweifte ihr Blick weiter durch den Raum, gerade so, als hätte sie nichts bemerkt. „Es tut ihr leid,<br />
wenn es hier etwas dreckig ist“, sagte sie „,aber ihre Sklaven scheinen in letzter Zeit etwas nachlässig<br />
zu sein. Elendiges Pack, diese multorischen ...“ Den, der wußte, daß die Sklaverei bereits seit einem<br />
halben Menschenalter in den Ostländern abgeschafft war, unterbrach sie schnaubend: „Nein, die Taue<br />
meint er, äh, ich!“ Doch das schien die Frau nur wieder zu verwundern. Den gab es auf, rappelte sich<br />
mühselig hoch. Er schnappte sich eines der Seile, drückte es der Alten in die Hand und schloß ihre<br />
magere Faust fest darum. „Dies hier!“ Sie zuckte etwas zusammen und betrachtete intensiv und<br />
offensichtlich mit größtem Interesse jede einzelne Faser. Endlich schien ihr etwas zu dämmern. Sie<br />
lächelte ein geheucheltes, zahnloses Lächeln. Ihre Stimme wurde brüchig: „Sie erinnert sich nun. Er<br />
kann dieses ... dieses Ding entfernen.“ Mit einem Ausdruck der Erleichterung entwand Den ihr das<br />
Seil aus der Hand und beförderte es wieder auf den Boden. „Sie erinnert sich. Oh ja. Sie mußte<br />
gefesselt werden. Aber, mein lieber Junge, dies ist doch nichts besonderes in unserer Gesellschaft.<br />
Wir alle unterliegen doch täglich Tausendern von Fesseln, von Zwängen. Wir sind Abhängige. Von<br />
den Sklaven, die uns das Haar kämmen. Dem Koch, der uns das Fleisch zubereitet. Den Wachen, die<br />
aufpassen, daß kein Bettlerpack den Haussegen stört. Noch gestern sagte ein hohes Mitglied des<br />
Quattrumvirats, ja sogar das ranghöchste, zu ihr: Liebste Cathjana de Sjenda, wir müssen Euch<br />
binden, solange Ihr noch nicht erwachsen seid. Wenn Ihr gefesselt seid, so könnt Ihr nicht<br />
hinausgehen und seid nicht den Gefahren dort draußen ausgeliefert. Dies hier, mein Lieber,“, sie<br />
deutete mit einer verächtlichen Geste auf die Seile „dies ist nichts weiter als ein reiner Selbstschutz.<br />
Und somit dient es der Erhaltung der Gesellschaft.“ Den fing allmählich an sich zu wundern: Diese<br />
Cathjana sollte nicht hier sein, nicht in diesem ... Tempel. Sie schien vielmehr in ein Heim für geistig<br />
Kranke zu gehören, denn ihre Argumentation war doch sehr merkwürdig. „Aber was ist mit Freiheit?<br />
Hast du kein Bedürfnis nach Freiheit?“ Die Alte lächelte überlegen und schüttelte den Kopf:<br />
„Freiheit! Schnickschnack! Was sollte ich denn damit anfangen?“ - „Nun, alles. Du könntest tun und<br />
lassen, was du willst.“ - „Quatsch!“ - „Aber hast du kein Bedürfnisse?“ - „Fischweibergeschwätz!<br />
Bedürfnisse haben nur die Armen.“ - „Und Natur? Reisen? Abenteuer?“ - „Höre er zu, junger Mann,<br />
die Natur ist lebensfeindlich. Was sollte sie dort? Nein. Nein! Nur die Stadt mit ihren Mauern kann<br />
uns Sicherheit geben. Nur innerhalb der eigenen vier Wände kann der Mensch überleben. Wozu ein<br />
Risiko eingehen, wenn man es auch so ganz angenehm haben kann?“ - „Aber bist du denn nie aus<br />
diesem Zimmer herausgekommen?“ Cathjana überlegte einen langen Moment. „Es gab einmal eine<br />
Zeit, da sie in einem anderen Haus war. Sie hatte dort ein schönes Kleid. Ja, und Kräuter. Viele<br />
Kräuter.“ Sie lachte leise in sich hinein. „Manchmal hat sie damit kleine Tränke gemischt. Es war nett<br />
zu sehen, wenn sich die Hühner auf dem Boden wanden oder ein Sklave auf einmal ganz gelb im<br />
Gesicht wurde. Aber das ist lange her. Hier geht es ihr besser. Niemand stört sie. Hier hat sie ihre<br />
Ruhe.“ Den konnte diese Behauptungen nicht auf sich sitzen lassen. Er begann zu erzählen. Von<br />
seinem Volk, den Nuu-Giik, die als freie Menschen die Berge durchstreiften. Von den Nuu-Giik-<br />
Trappern, denen seine Sippe seit Urzeiten immer wieder ein Schnippchen schlug. Von den Tieren, die<br />
niemands Knecht und niemands Herr waren. Die Zeit verrann, während er von der Außenwelt, seiner<br />
Welt berichtete und Cathjanas Gesicht wurde immer weißer. Schließlich preßte sie sich die Fäuste auf<br />
die Ohren und schrie wie ein kleines Mädchen: „Sie hört nicht mehr zu! Hat er verstanden? Sie hört<br />
nicht mehr zu!“ Den brach seine Geschichte ab und dachte eine Zeit lang nach. Beide schwiegen.<br />
Dann erhob er sich und schlurfte zur Tür. Auf der Schwelle drehte er sich um. „Vielleicht, ehrenwerte<br />
Cathjana, ist es wahr, was du sagst. Vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall hast du ein Recht auf deine<br />
eigene Meinung. Ich werde es nicht mehr anzweifeln und bedauere, daß ich dich gestört habe. Lebe<br />
weiter in Frieden.“