Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler

Ein Sehender unter Blinden - Marc Rösl
verendetes Tier. Über ihre Religion war nichts bekannt gewesen, ebensowenig wie über ihre
Herkunft, keiner vermochte sich auch nur daran zu erinnern, wie sie hieß, und auch wenn Parcesastre
Lugubrues sich verpflichtet gefühlt hatte, ein kurzes Gebet zu den Göttern zu sprechen ( zu allen
Göttern, da er ihren Gott, wenn sie einen hatte, nicht wußte) und einen in Elek-Mantow gängigen
Bestattungsritus abzuhalten, konnte das ihrer Grablegung doch kaum etwas von ihrer Trostlosigkeit
nehmen, zu der der graue Himmel und der feine tröpfelnden Regen ein passendes Stimmungsbild
boten. Die Trauer der beiden Anwesenden aber war echt.
Sarjana, die Heilerin, hatte der Kleinen oft kostenlos geholfen, wenn sie verletzt oder krank war, und
Aramar hatte ihr von seinem mageren Lohn als Hauslehrer in der Oberstadt regelmäßig ein paar
Eisensonnen zugesteckt. Beide hatten das Mädchen wirklich gemocht.
„Das war´s,“ meinte der Totengräber schließlich und wischte sich die Hände ab. „Ihr könnt nach
Hause gehen, die Kleine hat es hinter sich.“
Er blickte in ihre betretenen Gesichter, und ein Schatten huschte über seine Züge, als er das für andere
Augen unsichtbare Signum erspähte, mit dem der junge Kasralit gezeichnet war. Mariannette
Flambertin hatte ihn berührt, mit der Hand und mit ihrer Macht. Parcesastre las Tod und Untergang in
Aramars Augen, aber dieses eine Mal war es anders als sonst, keine Gewißheit, sondern nur eine
Möglichkeit. Der Totengräber runzelte überrascht die Stirn.
„Was habt Ihr, guter Mann?“ fragte Aramar, dessen scharfer Beobachtungsgabe nicht entgangen war,
daß er einer kurzen, aber intensiven Musterung unterzogen worden war.
Aber der Seher schwieg.