Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler
Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler
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Bergpredigt - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />
nahm eine Hand voll Steine auf und drückte. Er holt tief Luft und blies seinen heißen Atem in seine<br />
geschlossenen Hände. Als er sie wieder öffnete, lagen ein Haufen kleiner, durchscheinender<br />
Diamanten auf der alten, braunen Haut seines jetzigen Körpers. Er lächelte zufrieden und machte sich<br />
auf um sich ein weiteres Mal von den Eigenheiten der Menschen amüsieren und verblüffen zu lassen.<br />
Corwin blickte auf und schüttelte gleich noch einmal den Kopf. Oh man, einer seiner Weine mußte<br />
schlecht gewesen sein. Die ganze Straße drohte in sich zusammenzubrechen, wenn sie sich weiter so<br />
drehte. Was war es noch gleich gewesen, was er machen wollte? Naja, egal, erstmal würde er sich<br />
hinsetzen, ja das war eine gute Idee!<br />
Der Bergmeister blickte schmunzelnd zu der schlaksigen Gestalt des Corwin Dery, auch Sell oder<br />
Bucha genannt hinüber. Er war betrunken. Das war etwas, daß er auch bald versuchen mußte. Sich<br />
betrinken, bis die Sinne schwinden... Wie das wohl wäre. Aber jetzt erst mal etwas anderes: „Hier<br />
Corwin, ich gebe Euch ein paar Diamanten, dafür nehme ich mit aus Eurer Innentasche einen der<br />
falschen Passierscheine!“<br />
Corwin blickte erstaunt auf: „Woher wußtscht Du dasch mit´n Scheinen, Alterschen?“<br />
Der Bergmeister lächelte noch ein wenig breiter. Natürlich, für den guten Sell mußte das ja wie ihre<br />
erste Begegnung wirken, diesen Leib hatte er ja noch nie gesehen...<br />
„Wir hatten schon miteinander zu tun!“, nickte er beruhigend.<br />
„Oh, ham wir dasch?“ die Stimme des jungen Mannes war schwer vom Alkohol und trotzdem konnte<br />
der Bergmeister ein starkes Mißtrauen heraushören.<br />
Corwin rülpste noch einmal leise, dann sank sein Kopf auf seine Brust. Er holte tief Luft, setzte zu<br />
einem lauten Schnarchen an... und war verschwunden!<br />
Der Bergmeister blinzelte überrascht und blickte sich um. Sofort bemerkte er, daß etwas nicht<br />
stimmte. Er sollte das warme Kribbeln spüren, daß den Aufgang der Sonne ankündigte. Statt dessen<br />
war ihm kalt, seine Haut wurde rauh und seine Härchen richteten sich auf. Da war etwas... lebendiges<br />
in der Luft. Die Dunkelheit war nicht länger nur die Abwesenheit von Licht. Lange, dunkle Fasern<br />
schienen sich in der Schwärze zu bewegen, zuckend wie Würmer, immer ganz knapp außerhalb der<br />
Sicht des Beobachters, aber trotzdem unverkennbar da und wartend, daß sich ein Leichtfertiger in ihre<br />
Nähe begab. Ein fauler Wind schien aufgekommen zu sein und trieb einen Geruch wie von<br />
Verwesung und Tod in die Nase des erstaunten Bergmeisters. Er hatte keine Angst, so konnte man das<br />
nicht nennen. Er war eher- Bestätigung. Was gerade passierte deckte sich genau mit dem was er<br />
unbewußt erwartet hatte. Diese Nacht war nicht wie die anderen und eine innere Sicherheit überfiel<br />
ihn: Sie würde niemals enden.<br />
Der Bergmeister horchte in sich hinein. Die Stimme der Kraft hatte ihren Ton verändert. Sie sang nun<br />
laut und angestrengt, als würde sie alles geben müssen und gleichzeitig wurde sie nicht verbraucht,<br />
nur... geändert.<br />
Es gab nur ein Wesen, daß dazu in der Lage war. Der Bergmeister schob sein Kinn nach vorne, neigte<br />
den Oberkörper nach vorne und stapfte zielstrebig auf die Spalte zu. Entschlossenheit- auch so ein<br />
Gefühl, daß sehr viel Spaß machte.<br />
Der Boden der Spalte war wie immer mit Nebel bedeckt. Es schien, als wollte sich der Boden der<br />
Spalte, beschämt über den Unrat und die Leichen, die sich im Laufe der Zeit hier angesammelt hatten,<br />
in ein reines Laken aus weißem Nebel kleiden. Es wurde Zeit, daß ein ordentlicher Regenguß die<br />
Abfälle und Abwässer aus der Spalte herausschwemmte.<br />
Der Bergmeister lief am Rand der Spalte entlang und fand wenig später, was er gesucht hatte: Eine<br />
dichte Nebelwand, durch die man nur ungefähr ein Gebäude erkennen konnte, wenn man mußte, auf<br />
was man zu achten hatte. Unter dieser dichten Wolke befand sich ein Schloß von erlesener Schönheit,<br />
so wie seine Bewohnerin und ebenso ungesehen wie sie für die meisten Menschen unerreichbar<br />
verborgen. Und das war gut so, denn die Herrin des Schlosses war ebenso falsch wie anmutig.<br />
Der Bergmeister verharrte nur kurz, um den Kopf ein wenig schief zu legen und auf die Geräusche der<br />
Nacht zu lauschen. Doch es waren nicht die Nachtvögel, die Ratten und die Fledermäuse, die er hörte.<br />
Es war ein seltsamer Singsang ohne Wort, aber von unheimlicher Melodie. Der Bergmeister schüttelte<br />
sich. Ob Marianette wußte, was sie da gerufen hatte?<br />
Der lange Saal hatte sich verändert, seit der Bergmeister das letzte Mal hier gewesen war. Wie lang<br />
war das jetzt nur schon her? Wenn er doch nur endlich so etwas wie Zeit erfahren könnte. Natürlich<br />
war alles eine Folge von Dingen, aber wie legte man dafür Einheiten fest? Mal brauchte doch ein