Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler
Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler
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Vogelfreiheit - Stephan Packard<br />
Lyr versuchte, die Informationen über ihre eigene Herkunft, die sie von dem angeblichen Schreiber<br />
erhalten hatte, Stück für Stück zusammenzusetzen. Er hatte ihr nur mit kleinsten Bruchteilen des<br />
Geheimnisses ausgeholfen, gab ihr auch keinen Hinweis darauf, woher er selbst dieses Wissen<br />
nahm.<br />
Die junge Schmiedin wußte wohl, daß ihre Familie nicht immer ihrem jetzigen Handwerk<br />
nachgegangen war, hatte sich von ihrer Großmutter in Kindertagen häufig von der goldenen Zeit<br />
ihrer Urgroßeltern erzählen lassen, die in der Oberstadt <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s ein reiches Leben zwischen<br />
herrlichen Tempeln und großartigen Ratsgebäuden geführt hatten.<br />
Was diesen glücklichen Zustand damals beendet und warum ihre Familie offensichtlich Konkurs<br />
erlitten hatte und ins Rattenloch abgestürzt war, darüber hatte die Großmutter keine Auskunft geben<br />
wollen. Auch Manyr schwieg sich in diesem Punkt aus; er redete von einer noch viel weiter<br />
entfernten Vergangenheit, meinte, unter ihren Vorvätern seien einige Begabte gewesen, Menschen<br />
zwar, aber mit besonderen Talenten gesegnet, die sich noch heute in ihrer Arbeit äußerten.<br />
„Von hervorragenden Talenten habe ich bei der Arbeit nie etwas gemerkt.“ hatte sie gesagt.<br />
„Eigentlich gibt es in der Stadt einige Schmiedemeister, die besseres leisten können als ich.“<br />
„Es geht nicht ums Schmieden,“ hatte Manyr abgewehrt. „Das ist kaum mehr als eine Pfründe für<br />
Euch. Die wahre Berufung Eurer Familie liegt in der plastischen Kunst.“<br />
„Worin?“<br />
„In der Bildhauerei, im Schnitzen von naturgleichen Bildern der Welt. Ihr seid eine ausgezeichnete<br />
Künstlerin.“<br />
„Darum wolltest du die Krähe von mir gefertigt haben.“<br />
„Ja. Sie ist - war - vom ästhetischen Gesichtspunkt aus wertvoll und besaß auch noch... andere<br />
Qualitäten.“<br />
Lyr hatte eine Weile geschwiegen, bis sie hinter diese Andeutung gestiegen war. „Du bist damit<br />
geflogen, nicht wahr?“<br />
„Ja.“<br />
Dann hatte Manyr sich erhoben und war Feuerholz suchen gegangen. Wann immer Lyr sich der<br />
Anwort auf ihre Fragen zu nähern meinte, brach er das Gespräch ab. Daß er das Erbstück gestohlen<br />
habe, leugnete Manyr. Statt dessen erklärte er ihr, er habe den wahren Dieb auf seinem Flug<br />
beobachtet und wisse, wo sie den Ring wiederbekommen konnten. Außerdem erklärte er, es sei<br />
von ungeheurer Wichtigkeit, daß der neue Besitzer dieses Kleinods unter keinen Umständen an<br />
den zweiten Ring gelangte, den ihre Mutter ihr hinterlassen hatte.<br />
Sie zog das Stück Messing von ihrem Finger und betrachtete es im Sonnenschein. Es war vielfach<br />
abgerieben und geplättet, die stumpfen Stellen schimmerten kaum mehr im Licht. Trotzdem legte<br />
Manyr anscheinend großen Wert auf den Erbring, war sogar selbst bereit, aus seiner Stube, die er<br />
so selten verließ, aufzubrechen und das Pendant zurückzuholen. Nach Norden müßten sie, hatte er<br />
gesagt, und dann nach Westen, etwa zwei Tagesreisen weit.<br />
���<br />
Dunkel also braucht die Welt, gleich wie das Licht ist’s Nötig, damit die Fugen der Realität nicht<br />
brechen Zwischen dem Druck der zaubernden Menschen. Einer hingegen, Der all sein Leben in Ruhe<br />
will bleiben, den jener Zweikampf Nicht so begeistert, daß er das eigene Wohl hinten anstellt, Um<br />
einer Seite zum Sieg zu verhelfen, der ruhe stetig In der Mitte der Waage, nicht soll er je sich<br />
verschreiben Dunkler Macht noch auch dem Licht. Alleine wenn einer Um ihn ist, der große Kraft im<br />
Dunkeln oder im Hellen Sammelt, so wende der Sinn sich des Manns in der Mitte: Nunmehr Muß er<br />
dem Schicksal sich fügen, die Waage selbst richten, und selber Gegengewicht sein, gleich, wie viel<br />
an Blut es ihn kostet.<br />
Die weisen Worte Isagar des Weißhaarigen wiederholten sich wie von selbst wieder und wieder in<br />
den Gedanken des Pergers. Perger! Jahrzehntelang hatte er nicht mehr so von sich gedacht.<br />
„Wenn du das Leben eines Schreibers führst, eines alten Mannes, dem seine eigene Existenz<br />
gleichgültig ist, und wenn du lange genug seine Gedankenwelt auswendig lernst und seine Rolle<br />
zur Perfektion bringst - Irgendwann verliert sich dein altes Ich im Hintergrund.“ Mit diesen Worten<br />
hatte er es Lyr beizubringen versucht. „Irgendwann verlierst du das Interesse an deinen eigenen<br />
Übungen, verlierst mit dem Interesse auch die Magie selbst.“